S.P.O.N. - Der Kritiker Die Ungleichheit zerreißt uns
Der Westen wackelt, die westlichen Gesellschaften sind unter Druck, und immer häufiger merkt man das auch. Die Verunsicherung nimmt zu, weil der Feind nicht von außen kommt, sondern von innen, und unter Druck reagieren manche nicht besonders westlich.
In London plündern Menschen Geschäfte, und David Cameron spricht von Kriminellen und vom Mob, weil er damit das Problem von den Gründen trennt. Er ordnet an, die Plünderer in Schnellgerichten härter zu bestrafen als üblich, er will, dass, auch unüblich, zur Abschreckung Namen und Gesichter der Angeklagten öffentlich gezeigt werden.
In San Francisco versammeln sich die Menschen, um gegen den Tod eines obdachlosen Mannes zu protestieren, der von einem Sicherheitsbeamten des öffentlichen Nahverkehrsbetriebs BART erschossen wurde. Und Verantwortliche von BART entscheiden, das Mobilfunknetz in ihrem Bereich für Stunden abzustellen, damit sich die Demonstranten dort nicht über Facebook oder andere soziale Netzwerke verabreden können, worauf die Demonstranten sagen, wir leben doch nicht in Syrien oder China.
In Norwegen ermordet Anders Breivik mehr als 70 Menschen, weil er nicht mit der Realität einer multikulturellen Gesellschaft zurechtkommt, und in der "Welt am Sonntag" macht man sich Gedanken, ob die Presse über diesen Mann, seine Weltsicht und seinen Wahn überhaupt berichten sollte, es scheint ein Unbehagen zu geben, wenn der Terror aus unserer Mitte kommt.
Was die drei Geschichten gemeinsam haben? Es werden kurzfristig wesentliche Grundsätze der westlichen Demokratie zur Disposition gestellt. In Großbritannien ist es die Unabhängigkeit der Justiz. In den USA sind es das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit. In Deutschland ist es in einer Art freiwilliger Selbstzensur die Pressefreiheit.
Gemeinsam haben sie auch, dass es bei diesen raschen, harschen oder angstvollen Maßnahmen um die Wirkungen geht, nicht um die Ursachen. Aber die Ursachen, die tiefer liegenden Entwicklungen sind natürlich interessanter, sie werden uns noch länger beschäftigen, da hilft es nichts, wenn man das Mobilfunknetz abstellt oder entscheidet, nicht zu berichten.
Der Soziologe Richard Florida hat im Zusammenhang mit den Londoner Ausschreitungen darauf hingewiesen, wie sich gerade die westlichen Großstädte zum Spielplatz von Wut und Verteilungskämpfen entwickeln. "Die Globalisierung", schreibt er, "hat unsere Städte unendlich reicher werden lassen, sie sind aber auch immer stärker durch Ungleichheit zerrissen."
In Athen, in Madrid, in Tel Aviv sind die Innenstädte der Ort der friedlichen Proteste. In London ist die Symbolkraft besonders hoch, nicht nur, weil es die Bankenmetropole ist und reiche und arme Viertel in unmittelbarer Nähe liegen. Sondern auch wegen Olympia 2012. "Die politische Energie", schreibt Florida, "ist in London fast ausschließlich auf die Bedürfnisse und Interessen einer elitären Minderheit ausgerichtet."
Florida hat vor Jahren die "kreative Klasse" gefeiert, er sah in den jungen, flexiblen Stadtmenschen die Zukunft einer damals noch scheinbar sonnigen Lebens- und Wirtschaftsform. Seine Ernüchterung ist heute umso größer: "London verwandelt sich in eine olympische Stadt, was nicht nur bedeutet, dass ein neues Stadium gebaut wird, sondern dass vor allem ganze Stadtteile physisch umgesiedelt werden, was den Verdruss schürt. Der soziale Zusammenhalt wird zerstört, es gibt keine Institutionen, die den Verdruss der Massen kanalisieren, der Protest findet keine Stimme, so wird daraus Wut."
Was er im Grunde sagt: Uns ist die Idee der Stadt verloren gegangen. Sie stand am Beginn der Idee des Westens. Sie ist in der Krise, genauso wie der Westen.