Georg Diez

S.P.O.N. - Der Kritiker Plädoyer für die Zukunft

Es ist ein Kampf der Zeiten: Reaktionäres Denken aus der Vergangenheit bestimmt oft das Handeln der Akteure in der Gegenwart. Doch die Zukunft braucht andere Rezepte.

Die Kämpfe des frühen 21. Jahrhunderts sind eher Kämpfe verschiedener Zeitebenen als Kämpfe verschiedener Ideologien. Da ist zum einen der Angriff der Vergangenheit auf die übrige Zeit - wobei die Vergangenheit verschiedene Gesichter haben kann.

Sie steckt im autoritären Linksnationalismus von Sahra Wagenknecht wie im demokratiefeindlichen Orbanismus von Horst Seehofer, sie zeigt sich in Putins hegemonialen Fantasien wie in den Blut-und-Boden-Reden von Pegida wie im terroristischen Antimodernismus des "Islamischen Staats".

Und da ist zum anderen der Angriff der Gegenwart auf die Zukunft - der Neoliberalismus vernichtet das Gefüge der Zeit, weil er auf rasendem Stillstand gebaut ist.

Mark Fisher hat das zuletzt in seinem Text "Kapitalistischer Realismus" gut beschrieben: Das Leben mit Retro-Lampen und Retro-Musik und Retro-Gedanken, dieses Leben im Zitat ist ein Leben in Zeitlosigkeit.

Die Abschaffung der Zukunft war damit immer auch ein politisches Projekt: Der Neoliberalismus brauchte den Kult der Gegenwart, um jede Veränderung zu verhindern. Denn die Veränderung war ein Versprechen. Das Versprechen war die Utopie. Die Utopie war die Zukunft, die notwendig war, um Veränderungen zu schaffen.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit musste man erst einmal als einen zukünftigen Zustand denken, um ihn in der Gegenwart einzufordern. Deshalb, wenn man Aufklärung, Emanzipation und Individualismus als linke Werte sieht, war die Zukunft immer links.

Von der Zukunft aus denken

Und deshalb ist auch die Wiederentdeckung der Zukunft, wie sie gerade geschieht, ein linkes Projekt - und zwar links nicht in dem allgemeinen Gegenwartssinn von Yanis Varoufakis.

Der versucht mit seiner Initiative DiEM25, die am Dienstag in Berlin gestartet ist, nur das Offensichtliche und Notwendige: Die Demokratisierung der europäischen Institutionen, eher eine Wiederentdeckung der Gegenwart.

Wer das für radikal hält, hält auch Jacques Delors für einen Revolutionär.

Worum es tatsächlich heute gehen sollte, ist etwas anderes: Einen Weg zu finden, die Gegenwart wieder von der Zukunft aus zu denken.

Und zu verstehen, dass die Gegenwart auf anderer, vor allem ökonomischer und überwachungstechnologischer, Ebene längst von der Zukunft aus regiert wird.

Nichts anderes sind etwa die Derivate, die auf den Finanzmärkten gehandelt werden, nichts anderes sind die Wetten für oder gegen Staaten, für oder gegen Währungen.

Gerade erst hat der Hedgefonds-Manager Kyle Bass angekündigt, der schon den Crash von 2008 antizipiert hatte, dass er jetzt den Yuan "shortet", er wettet gegen China, gegen die Zukunft der chinesischen Währung.

Und auch Big Data und die Anwendung dieser Daten im kommerziellen wie im nachrichtendienstlichen Bereich sind nichts anderes als eine Umkehrung der Zeitachse: Von der Zukunft aus werden Handlungen in der Gegenwart gefördert, begründet, geahndet.

Die Zukunft wird technologisch sein

Deshalb, so fordert nun der Philosoph Armen Avanessian, muss auch das Denken diese Tatsache akzeptieren, diesen Turn mitmachen: Post-contemporary, so ist das Schlagwort, das er der Gegenwartsgenügsamkeit entgegensetzt.

Avanessian plädiert explizit dafür, eine neue Politik im Wissen um und nicht in Gegnerschaft mit den neuen Technologien zu entwerfen: Denn die Zukunft wird technologisch sein.

Anders gesagt: Um die Gegenwart zu definieren, muss man der Gegenwart erst einmal entkommen. Es ist die Wiedergeburt der Zukunft aus dem Geist des Akzelerationismus.

Es ist ein Gedanke, der auf andere Art die Arbeit des Künstlers Christopher Roth prägt, die gerade in der Berliner Galerie Esther Schipper zu sehen ist: Aus den Ruinen vergangener Utopien sucht Roth einen Freiraum fürs Heute.

Roth geht zurück in die Sechzigerjahre und findet beim Filmregisseur Michelangelo Antonioni die Schönheit des Betons, den Rausch der Sinne, die Freiheit der Körper und das Versprechen eines Jetzt, das mehr will.

Auch bei Roth hat das ästhetisch Neue ein revolutionäres Potenzial: Es ist die Wiedergeburt der Zukunft aus dem Geist des Hedonismus.

Gerade die Kunst war es allerdings, die sich in der kulturellen Hegemonie des "Contemporary" über alles stülpte und dabei immer mehr kapitalistischen Realismus produzierte, ohne das ikonoklastische Pathos eines Revolutionärs wie Andy Warhol.

Die Gegenwart anders denken

Die Fähigkeit, die Gegenwart grundsätzlich anders zu denken, ist dabei vielen verlorengegangen und muss erst mühsam wieder trainiert werden, so scheint es - aber sonst versinkt diese Zeit, versinkt dieser Kontinent in einem Sumpf aus Putin und Pegida.

Der Punkt dieser Reaktionäre ist: Mit der Vergangenheit wird man leichter fertig, man kann sie leichter beschwören, man findet dafür immer Unterstützung.

Das zeigt sich gerade in Frankreich, wo mit den Notstandsregelungen die Gleichheit vor dem Gesetz aufgehoben wurde, eine der wesentlichen Errungenschaften der französischen Revolution. Das zeigt sich auch in der Schweiz, wo die Abstimmung über die Durchsetzungsinitiative einen Abschied vom Rechtsstaat einläutet.

Mit der Zukunft wird man dagegen potenziell nicht so leicht fertig, sie hat immer ein anarchisches Moment.

"Wenn das Ziel des neoliberalen Kapitalismus letztlich darin besteht, eine Welt zu schaffen, in der niemand mehr den Glauben an ein anderes funktionsfähiges Wirtschaftssystem besitzt", hat David Graeber gerade im SPIEGEL geschrieben, "dann muss er aus diesem Grund nicht nur jeden Gedanken an eine erlösende Zukunft unterdrücken, sondern auch jede radikale technologische Zukunft, die diese Erlösung hervorrufen könnte."

Alles könnte anders sein: Das ist das anarchische Pathos, das in der Zukunft begründet ist.

Das ist auch die Gefahr für all jene, die die Zeit in Stein meißeln wollen und Sicherheit und Ordnung über Freiheit und Gleichheit stellen.

Das Problem der Linken ist, dass sie die Lösungen allzu oft immer noch in der Vergangenheit suchen.

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Foto: SPIEGEL ONLINE
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