S.P.O.N. - Der Kritiker Kunde, du bist ein Wurm!
Ich hätte ihnen sagen können, dass das so nicht klappen kann. Schon wenn man einen dieser Läden betrat, fühlte man sich ja wie in einem Roman von Kafka. Die ganze Sinnlosigkeit des eigenen und überhaupt allen Daseins wehte einem da entgegen, es war schauerlich und traurig und von großer Wahrheit.
Aber eine Schleckerfiliale ist ja kein Staatstheater. Andererseits ist es auch irgendwie interessant, dass man dort, bei Schlecker, die existentielleren Erfahrungen machen konnte. Das sagt viel über die Krise des Theaters. Aber auch viel über die Krise von Schlecker. Den einen droht die Belanglosigkeit, den anderen der Bankrott.
Was haben sie auch erwartet: Sie haben eigenhändig den Kapitalismus in das Schauerdrama verwandelt, das er für viele heute tatsächlich ist. Diese ewig einsame Frau inmitten all der Haarwaschmittel und Windeln und Lippenstifte und Scheuerlappen, diese tragische Gestalt des frühen 21. Jahrhunderts, die gleichzeitig die Regale aufstockte und den Boden schrubbte und an der Kasse saß und deshalb nie gleichzeitig überall war, sondern stets nirgends.
Dass der Kapitalismus ein soziales Gängelungssystem ist, war bei Schlecker deutlicher zu erkennen als fast irgendwo sonst. Das Avantgardistische daran war, dass sie nicht nur ihre Mitarbeiter schlecht behandelten, sondern die Kunden gleich mit. Das eine ist eine Lehre aus den Anfängen des Kapitalismus, Stichwort Manchester, das andere ist eine Foltermethode aus der Endzeit des Kapitalismus, Stichwort Wall Street. An der Kasse von Schlecker konnte man jedes Mal neu spüren, dass da etwas fundamental falsch läuft.
Wir haben dich in eine Ware verwandelt
Es war ja die geniale Erfindung von Schlecker, dass sie das Kassenförderband abschafften und auch den Platz, wo man die Sachen, die man gekauft hatte, in Ruhe einpacken konnte. Das ergab überhaupt keinen Sinn und schaffte enormen Stress für die Verkäuferin und den Käufer. Wo einmal ein Förderband war, standen jetzt so viele Kaugummis und Putzmittel, dass man seine eigenen Waren nur mit Mühe hinquetschen konnte. Wo einmal die Packfläche war, klaffte nun das Nichts. Man musste also die Haarwaschmittel und die Windeln und die Lippenstifte und die Scheuerlappen in der Luft jonglieren und nach und nach kunstvoll in der Tasche versenken - wer das nicht schaffte, brüllte entweder die Verkäuferin an oder ließ einfach alles liegen und schwor sich, nie wiederzukommen.
Es war deswegen für einen Wirtschaftsfuchs wie mich kein Wunder, als ich von der Schleckerpleite erfuhr - merkwürdig ist jedoch, dass die offene Verachtung für den Kunden eher zu- als abnimmt. Ich würde ja sagen, dass das keine gute Idee ist, wenn man etwas verkaufen will. Vielleicht bin ich da auch altmodisch. Aber als ich klein war, so in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, da war der Kapitalismus noch ein heiteres Versprechen, das zumindest suggerierte, dass der Kunde irgendwie glücklicher würde, wenn er etwas kauft. Heute behandeln sie einen oft so schlecht, dass man den Eindruck hat, man müsse überhaupt froh sein, dass man etwas kaufen darf.
Und vielleicht ist das tatsächlich die Botschaft: Du bist nur Kunde, du bist ein Wurm, wir haben dich vor langer Zeit in eine Ware verwandelt, ohne dass du es gemerkt hast, und jetzt behandeln wir dich auch so. Du bist eine Flasche Haarwaschmittel, du bist eine Packung Windeln, du bist Lippenstift, Putzlappen. Auf den Boden mit dir!
Loop der Hoffnungslosigkeit
Es geht also, ganz im Sinne Foucaults, um Angst und Kontrolle. Der Stress, der so ins System gepumpt wird, führt zu Spannungen in den Menschen oder zwischen den Menschen - und wenn ich Karl Marx wäre, würde ich sagen, dass die Menschen dadurch, dass sie sich untereinander streiten, nicht auf die Idee kommen, gegen das System zu rebellieren. Insofern ist die Logik von Schlecker vielleicht privatwirtschaftlich selbstmörderisch, kapitalismustheoretisch aber zumindest für eine Weile systemerhaltend.
Das Ende von Schlecker ist also gut. Genauso wie das Ende von Netto gut wäre, die es seit einer Weile wie Schlecker machen und einfach direkt hinter der Kasse alles weggesägt haben, was dazu führt, dass ich mich, wenn ich mal da bin, immer mit der Verkäuferin streite, weil sich natürlich die Ware staut, wie sollte es auch anders sein?! (Hinzu kommt aber noch, dass diese Verkäuferin auch noch versucht, meine kleine Tochter zu erziehen, und sie anschnauzt, sie solle gefälligst die Hand vor den Mund halten, wenn sie hustet, nur um dann selbst lungenemphysemig loszubellen.)
Ich hoffe also inständig, dass Netto pleite geht. Ich wünsche mir auch, dass AOL verschwindet, noch so ein Unternehmen voll Verachtung für die Kunden - wenn jemand, wie ich, seine E-Mail ändern will, weil das Konto gehackt wurde, gerät er in einen Loop der Hoffnungslosigkeit, eine postmoderne Variante von Dantes Vorhölle. Ohne ins Detail zu gehen: Besonders raffiniert ist die Sache mit der "Sicherheitsfrage", die wiederum an Kafkas schöne, sinnlose Erzählung "Vor dem Gesetz" erinnert - diese Frage ist nur für mich bestimmt, aber ich kenne die Antwort nicht, weil ich sie nie hinterlegt habe. Das System hat sich diese Frage ausgedacht, mit besonderer Perfidie. "Was ist ihr Lieblingsbuch", so lautet die Frage, und wäre ich nicht so sauer auf AOL, weil sie mir nicht helfen, mein Problem zu lösen, würde ich vielleicht lachen über die Ironie, dass gerade ein Literaturkritiker diese Frage nicht beantworten kann.
Vor ein paar Tagen habe ich übrigens doch noch eine Mail von der AOL-Hotline bekommen, von einer Frau, die sicher einsam irgendwo in Texas sitzt. Sie würde mir gern helfen, ein neues Passwort einzurichten, schrieb sie. Erst müsste ich, und dieser Teil war größer gedruckt und in grellroten Buchstaben, erst müsste ich allerdings meine Sicherheitsfrage beantworten.