S.P.O.N. - Der Kritiker Was Kleist und Guttenberg gemein haben
Der Adel kann sich nicht benehmen. Er kann nicht die Wahrheit sagen. Er kann sich nicht entschuldigen. Er kann nicht "ich" sagen. Er schaut einem nicht ins Gesicht. Er schafft es trotzdem irgendwie immer wieder, dass die Leute nicken, wenn er sagt: Aber Anstand und Gesinnung, das haben alles wir erfunden!
Was sind wir für Bürger-Lämmer.
Der Adel verachtet uns dafür. Er überfällt lieber Nachbarländer, um zu zeigen, was er so drauf hat. Er sucht den Tod, den Krieg, das Drama, weil er ja weiß, dass er auch nur ein Schwächling ist, also ein Mensch. Er erschießt eine Frau, mit der er nicht einmal geschlafen hat, und dann erschießt er sich selbst, und wir Bürger-Lämmer feiern diese grausame, gewalttätige Tat als Akt der Autonomie oder der romantischen Selbstzerstörung oder als unergründliches Geheimnis, als etwas, zu dem wir nie in der Lage wären.
Wir sind ja nur Bürger-Lämmer.
Vom Tod berauscht
In dieser Woche war er wieder mal überall, der Adel. Überall. Es fing mit den Bücklingen an vor der Sprache, der stockenden, verbogenen, heimlichtuerischen Sprache des Dunkeldichters und Nationalisten Heinrich von Kleist, diesem Fanatiker und Fundamentalisten, der vom Tod berauscht war und in seinen Stücken besonders gern von der Lüge erzählte und von der Verstellung, vom herrlichen Gesetz und dem Selbstopfer, das allein die Freiheit eröffnete.
Dann ging es weiter, wie eine Weile noch, er wird ja erst im Januar 300. 300! Er ist so alt der Adel, so alt - weiter also ging es mit dem verdammten Flötenspieler Friedrich.
Und kurz vor dem Wochenende, wenn wir Bürger-Lämmer rausfahren in die herrlichen Parks, deren Erhabenheit und Ebenmaß uns von der natürlichen Überlegenheit des Adels überzeugen, und zu den Schlössern, in denen wir staunen und schauen, Reichtum hat ja an sich schon eine brutalistische, betörende Seite, kurz vor dem Wochenende dann kam die große Resozialisierungsmaschine mit Namen "Die Zeit" daher und verkündete feierlich: "Es war kein Betrug".
Da sind wir aber froh, wir Bürger-Lämmer.
In ein Londoner Hotel hatte er gebeten, Karl-Theodor zu Guttenberg, er saß vor einem weißen Kamin und lieferte eine deprimierende Performance von juristischer Wortdrechslerei und adeligem Selbstrechtfertigungspathos: "Wenn ich wüsste, dass ich das absichtlich gemacht hätte, würde ich dazu stehen. So bin ich auch erzogen worden."
Der Unsinn mit dem Messer
Dieses Interview gibt einen Einblick in die Psychopathologie eines Mannes, der im Zeitraffer die klassische Adeligen-Karriere hingelegt hat, vom Gauner zum Gentleman - und wieder zurück. Mal verlor er sich in Kleistschen Nebensatzkonstruktionen: "Das ist auch der Grund dafür, dass ich Absicht auch zugegeben hätte, wenn ich sie denn gehabt hätte." Mal wurde er richtig herrisch: "Und dann", sagte er, es ging um die Frage, unter welchen Umständen man eine Entschuldigung annehmen kann, "und dann ist es kein Können, dann ist es in meinem Augen ein Müssen".
So denkt er und so redet er halt, der Adel. Können? Müssen! Immerhin hat es der Mann wohl geschafft, dass alle erst einmal nur noch über seine abgeschriebene Doktorarbeit reden und nicht mehr über Selbstherrlichkeit, die Kunduz-Affäre und die Gorch Fock.
Wer hat aber eigentlich gesagt, dass der Adel überhaupt noch eine Rolle spielen soll? Auch dazu lieferte "Die Zeit" eine Erklärung, weiter hinten im Feuilleton: "Es ist ganz allgemein ein Irrtum, sich den Aristokraten als einen gesteigert vornehmen Bürgerlichen vorzustellen", schreibt da der Chef Jens Jessen. "Er hat andere Verhaltensideale, jedenfalls Reste davon, zu denen Ungezwungenheit an vorderster Stelle gehört."
Ja, genau, und dann kommt auch noch der Unsinn mit den Manieren und den Manschettenknöpfen und dem Messer, mit dem man keine Kartoffeln schneidet.
Warum also das alles? Die Anstandsnummer, die Stauffenberg-Verklärung, die Preußen-Feiern, die Erschütterung bei den Totengräbern vom Feuilleton über einen Selbstmord am Wannsee? Für diese Art von Adelswiedergutmachung gibt es eigentlich nur eine Erklärung: eine tiefe, tiefe Identitätskrise unserer Republik, tiefer noch, als wir sie wahrnehmen.