S.P.O.N. - Fragen Sie Frau Sibylle Mein Sterben gehört mir
Der letzte Bus zur Staumauer im Schweizer Kanton Tessin, Verzascatal. Das gebaute Naturelend, das durch einen James-Bond-Film bekannt wurde, ist das höchste in Europa, der Welt, oder auch nur im Tessin, auf jeden Fall - sehr hoch. Am Tag springen nervenkranke Arbeitssklaven an Gummiseilen in den Abgrund, um irgendetwas zu fühlen, das nichts mit der verzweifelten Erkenntnis zu tun hat, dass ihr Leben trotz Karriere und Immobilienportfolio enden wird, und am Abend kommt der letzte Bus.
Fast wöchentlich erkennt der Busfahrer seine Pappenheimer: die mit bleichem Gesicht, in der hintersten Reihe, ohne Gepäck. Der letzte Gast steigt aus, der Busfahrer sieht den Reisenden noch einmal an, er lächelt, er weiß, das wird das letzte Lächeln sein, das der Reisende sehen wird.
Auf der Staumauer eine Toilette für die letzte Hygiene, und eine Telefonzelle. Ein münzfreies Seelsorgetelefon. Der Wind weht. Wer nicht telefoniert, springt. Die Aussicht zum Lago Maggiore, der Gedanke an James Bond, oder an gar nichts mehr, außer daran, endlich Ruhe zu haben. Vor diesem Leben, das einem ungefragt aufgezwungen wurde, dieses Geschenk, um das keiner gebeten hat. Dieses christlich verankerte leise Raunen, hört die Menschengemeinschaft von Selbstmorden, der Makel, der noch der armen Leiche anhaftet. Der Geruch des Versagens, des sich nicht Zusammenreißens, man hätte doch reden können, zum Therapeuten gehen können, kann man aber auch sein lassen.
Wollen Sie auch manchmal schreien?
Sicher gibt es sinnlos erscheinende Selbstmorde junger Menschen, die sich im Rausch der Hormone verlieren, man hätte sie einschließen sollen oder mit Drogen beruhigen. Doch die anderen, die Ausgewachsenen, die Lebensmüden. Wer maßt sich an, ihnen vorzuschreiben, wann sie diese ohnehin lächerliche Zeit auf der Welt beenden dürfen?
Die Schweizer Sterbehilfeorganisation Exit begleitete im letzten Jahr 305 Menschen in den Tod. Unheilbar Kranke, mitunter Depressive. Der Luxus des freien Willens ist Schweizern vorbehalten, der Deutsche muss sehen, wo er bleibt, wenn er nicht mehr bleiben will.
Warum sollen wir unbedingt und staatlich verordnet leben müssen? Wir haben kaum ein Recht auf irgendetwas, wir müssen uns eingliedern, versichern, sozial verhalten. Das Radio leise machen, die Freunde um zehn nach Hause schicken, den Vorgarten von Schnee befreien, in die Schule gehen, um Unsinniges zu lernen, wir müssen uns bekleiden, in ordentliche Frauen- oder Männerkleidung, damit eine Zuordnung ermöglicht werden kann.
Unser Sexualleben sollte, wenn irgend möglich, in geregelten heterosexuellen Bahnen mit der Erzeugung von Nachwuchs stattfinden, verdammt, wollen Sie auch manchmal schreien? Stundenlang schreien, weil Ihr Verstand nicht ausreicht, um all dem, was man müssen muss, zu entfliehen, durch den Aufenthalt im eigenen Kopf, durch das ausschließliche Spazieren in kybernetischen Formeln?
Jeder sollte sterben können, wann er will, mit freundlichem Lächeln sollten Verkäufer uns unsere Dosis schnell wirksamen Giftes verkaufen, damit wir in Ruhe zu Hause aufhören können, wenn wir das wollen. Und nicht als in die Hose scheißende Versager Staumauern hinuntersegeln müssen.