Sarrazin-Debatte Ein Freak, ein Störenfried, ein Jahrmarktsereignis

Kaum ist Thilo Sarrazin "erfolgreich geächtet", nehmen Kommentatoren in einer großangelegten Publikumsbeschimpfung seine Leser aufs Korn. Spekulationen über eine rechte Sammlungsbewegung schießen ins Kraut. Das Profil der potentiellen Mitglieder: männlich, allein, frauenhassend.
Von Matthias Matussek
Thilo Sarrazin: Bei einer Diskussionsrunde in der Berliner Urania

Thilo Sarrazin: Bei einer Diskussionsrunde in der Berliner Urania

Foto: dapd

Nun, nachdem sich die erste Hysterie gelegt hat, kann die Sarrazin-Diskussion in die zweite Runde gehen. In die Politik. In die Gremien. In die Lesesäle. In die Nachhaltigkeit. Der Bundespräsident, der vorgeprescht war, ist angeschlagen, worüber die SPD frohlockt, die allerdings jetzt das gleiche Problem hat: Wie werden wir Sarrazin los? Was wiederum die CDU erfreut.

Die Zuspätgekommenen der Debatte schwimmen wie Korken obendrauf und sagen: Wir sind oben, und die da unten sind noch im Trüben. Andere stochern in der erlöschenden Glut und finden überraschende neue Deutungen. Da geht es durchaus gemischt zu. Daniel Cohn-Bendit sieht in Sarrazins Gefolgschaft ängstliche "Wohlstandsbürger", während Bernd Ulrich und Matthias Geis in der "Zeit" bizarrerweise Haudegen im Geschlechterkampf ausmachen. Würden die eine Partei rechts der CDU bilden, so spekulieren sie, wäre es "eine Partei-Gründung der Männer gegen ihre Frauen, die wieder weniger emanzipiert sein sollen". Und zudem noch eine "Gründung nächstenliebeloser Christen gegen die Muslime".

Moment. Galt die fehlende Begeisterung für Emanzipation nicht bisher als Mangel islamfrommer Neuköllner Haushalte? Richtig, und genau das ist der Clou: Je länger linksliberale Leitartikler über den Aufreger nachdenken, desto weiter rückt ihnen Neukölln und desto mehr wird ihnen die Sarrazin-Leserschaft zur Problemschicht, die sich den demokratischen Integrationsangeboten widersetzt.

"Kein Mitleid für Sarrazin" hatte das "Hamburger Abendblatt" gefordert. Nun wird die Kampfzone auf die Leserschaft ausgedehnt. Und die wächst. Bis Weihnachten, so rechnete "FAZ"-Herausgeber Frank Schirrmacher hoch, wird das Buch von zwölf Millionen Menschen gelesen worden sein.

Nun habe ich sie gesehen, die Sarrazin-Leser. Mit eigenen Augen. Ich war in der letzten Woche eingeladen, auf einem Podium mit Sarrazin zu diskutieren in der Berliner Urania, und da ich kein "nächstenliebeloser Christ" sein wollte, nahm ich an. Das äußere Bild: vier Polizeiwannen, fürsorgliche Belagerung, vertrauenerweckende atombombensichere Schutz- und Zweck-Architektur der siebziger Jahre. Thilo Sarrazin trifft ein, im Schlepptau vier Bodyguards und ebenso viele Kamerateams, und einer ruft ihm zu mit mutiger Reporterhartnäckigkeit: "Herr Sarrazin, sind Sie ein Volksheld?" Wie ruft man so was sarkastisch und in Anführungszeichen?

Sie lassen Sarrazin auch im Vorbesprechungszimmer nicht aus den Augen: Sie stehen draußen in den Blumenrabatten und filmen durchs Fenster, wie Sarrazin ein Brötchen nimmt - "Guck mal, wie komisch der das Brötchen isst". Es ist ganz klar: Da steht der Mann, der die Republik zum Sieden gebracht hat, der Freak, der Störenfried, ein Typ wie jener legendäre "Kalldewey" aus der Farce von Botho Strauß, der plötzlich uneingeladen im Salon steht und schmutzige Wahrheiten erzählt. Der Saal: pickepackevoll, 600 bis 800 Leute.

Als Sarrazin die Bühne betritt, tritt ein Jahrmarktsereignis im gedeckten Anzug auf. Pulks von Fotografen umlagern die Rampe und fotografieren, wie Sarrazin geradeaus schaut. Klackklackklack, jeder gefühlte 50 identische Fotos, sicher ist sicher. Wir übrigen Diskutanten warten in der Kulisse. Einen habe ich am Vortag noch selber rekrutiert, den iranischen Filmregisseur Ali Samadi Ahadi, denn TV-Mann Walid Nakschbandi hatte kurzfristig abgesagt, und ich bat den Veranstalter um die Teilnahme eines Mitdiskutanten mit Migrationshintergrund. Ali Samadi Ahadi ist Regisseur des preisgekrönten Films "Salami Aleikum" und wird jetzt auf dem Hamburger Filmfest seine Dokumentation über die iranische Oppositionsbewegung Green Wave vorstellen.

Er hatte sich im Vorgespräch als kämpferisch gezeigt. Was er von dem Buch halte? "Na, wie fühlt man sich wohl mit so einem Buch, wenn man Ali Samadi heißt", hatte er erregt geantwortet.

Nach einer Viertelstunde gingen die Fotografen auf ihre Plätze und klackerten von dort aus weiter. Sicher ist sicher bei einem Autor, der sich einen Teufel darum schert, ob seine Befunde sozialverträglich sind. Oder "hilfreich". Nach Vorstellungen des Hausherren und des Veranstalters übernahm Christhard Läpple von "aspekte" mit einer Parade von ebenso lustigen wie listigen Fragen an Sarrazin, die mit ebenso klugen wie trockenen Antworten pariert wurden. Wann er aus der SPD austrete? "Da fragen Sie mich nach meinem Todestag", sagte Sarrazin, "und das ist nicht sehr geschmackvoll von Ihnen." Er verzog, wie jeder gute Entertainer, keine Miene dabei. Und zum Preis, den die Kanzlerin am Vortag dem Zeichner Westergaard für seine sicher nicht "hilfreiche" Mohammed-Karikatur überreicht hat? Er werde einfach fünf Jahre warten, und dann sei er sicher, dass Angela Merkel auch ihm einen Preis überreiche. Wiewohl niemand wissen könne, ob sie dann noch da sei. War das noch demokratisch, oder schon frauenfeindlich? Man muss genau hinhören bei Sarrazin.

Ob er sein Talent zur Provokation geerbt habe, fragte Läpple sodann listig. "Ach, Sie wissen doch, dass alles eine Mischung aus Erbe und kultureller Formung ist", antwortete Sarrazin und hatte damit die entscheidende Kampflinie seines Buches im Konversationston entschärft.

Bis hierher - eine lockere, intelligente wache Unterhaltung. Nun kamen Gefühle ins Spiel. Die Diskussionsrunde wurde mit Ali Samadi Ahadi eröffnet, der meinte, seit Sarrazins Buch habe sich Deutschland verändert, und nun habe er Angst. Der Ton sei anders. Genauer konnte er das auf Nachfragen durch den Moderator nicht benennen. Hm. Immerhin, warf ich darauf ein, müsse man hier nicht unter iranischen Bedingungen diskutieren, der freie Austausch von Meinungen sei doch so weit ganz schön. Sarrazin hat kein Flugzeug in einen Wolkenkratzer gesetzt, sondern ein Buch geschrieben, mehr nicht. Eines, das ich in seinen vererbungstheoretischen Teilen fragwürdig fände und das in manchen Statistiken wie der der Zuzugsquote widerlegt sei, aber das sei für mich nicht die Hauptsache - für mich sei es ein kulturkritisches Buch. Zur Bekräftigung trug ich einen gelben, lockergeschwungenen Schal, wie ihn nur mondäne Kulturleute tragen können.

Dann ging es weiter zu meinem Ex-SPIEGEL-Kollegen Jürgen Neffe, der dem Buch vorwarf, es atme "Blut und Boden". Leider blieb auch er darüber hinaus im Vagen, und da verlor Sarrazin tatsächlich kurz die Contenance und wurde laut, und ich verstand ihn. Es ist ja beileibe nicht so, dass Sarrazin nur die Instinkte seiner Befürworter bedient, auch seine Gegner reagieren instinktgesteuert. Sie lehnen, so aus dem Bauch heraus, "das Gedankengut" ab, wie Berlins Bürgermeister Klaus "Wowi" Wowereit, und da möchte man doch mehr Genauigkeit als Autor. Als Ali Samadi Ahadi unter Umgehung des Buches wieder einmal auf seine unkonkrete Angst zu sprechen kam, wurde er von konkreten "Neukölln"-Rufen unterbrochen. Es gebe, übersetzte Sarrazin, auch die Angst deutscher Schüler auf türkisch beherrschten Schulhöfen, wofür er donnernden Bestätigungsapplaus bekam.

War das nun der "Mob", der "Angestelltenpöbel", den mein Kollege Jan Fleischhauer, der im Publikum saß, anderntags auszumachen meinte? Ich habe es anders erlebt. Sicher, manche Zwischenrufer waren auch mir so unangenehm, dass ich irgendwann sagte: "Wissen Sie, wenn ich mir das so anhöre, kann ich verstehen, dass Herr Samadi möglicherweise Angst bekommt." Doch das war ein Konzessionssatz für den Mann, den ich eingeladen hatte. In Wahrheit fand ich die paar Zwischenrufer überhaupt nicht demokratiebedrohend. Und Ali Samadi Ahadi, der sich vor seiner Zwangsrekrutierung als Kindersoldat nach Deutschland gerettet hatte, kennt sicher bedrohlichere Szenarien aus seinem Film über die Unterdrückung der Meinungsfreiheit in Iran.

Es blieb gesittet in der Urania. Unten im Saal: Absolut nicht jene verbiesterten christlichen Kreuzzügler, die sich die "Zeit" herbeiphantasiert. Stattdessen jüngere Menschen, Akademiker, viele Pärchen darunter, Besucher, die sicher nicht zum ersten Mal zu einer Buchlesung erschienen waren.

Ein Publikum, das empfänglich zu sein schien für den bitteren und melancholischen Abschiedston Sarrazins, den er selber "Deutschland im Abendlicht" nannte. Hier auf dem Podium saß ein Bildungsbürger, der in seinem Buch immer wieder auf die glücklichen Lektüre-Erlebnisse seiner Kindheit zu sprechen kommt. Übrigens der einzige, der in Plasbergs Sendung Goethes Spätgedicht "Wandrers Nachtlied" rezitieren konnte.

Befragt nach den Wirkungen des Buches wies ich noch darauf hin, dass Sarrazin uns eben dieses zweite Thema zugespielt hatte. Dass sich unter den Bedingungen der Globalisierung zunehmend machtvoll das Thema der kulturellen Identität stelle, für die USA und Frankreich genauso wie für uns. Seit Sarrazin spreche selbst Sigmar Gabriel so geläufig von Leitkultur, als habe er das Thema erfunden. Vor vier Wochen noch galt es als Tabu.

Anschließend saß ich mit Thomas Brussig und seiner Frau beim Chinesen in der Kantstraße und fühlte mich schlecht wegen Ali Samadi Ahadi und bestellte Ente mit Knochen. Das Restaurant heißt "Good friends". Ich sinnierte über die Frage, ob ich fremdenfeindlich bin, und wenn ja, ob es vielleicht genetisch ist bei mir. Meine Frau und ich haben über zehn Jahre im Ausland gelebt, mein Sohn spricht drei Sprachen und hat auf seinem Gymnasium türkische, chinesische und russische Freunde, die im Übrigen exzellent Deutsch sprechen. Ich glaube nicht, dass wir frauenhassender, nächstenliebeloser Pöbel und Angestelltenmob sind. Aber wer weiß?

Klar aber wurde in den folgenden Tagen, dass nun offenbar Phase zwei des Sarrazin-Phänomens eingeleitet ist, die der Publikumsbeschimpfung. Mit Sarrazin waren die Apparate und der Großteil der Medien eher rumpelnd und krachend fertig geworden. Er ist, wie der SPIEGEL schrieb, "erfolgreich geächtet" worden. Nun knöpft sich "das verunsicherte journalistische Milieu, das im Minutentakt seine Meinung ändert" (Schirrmacher) die bürgerliche Mitte vor und legt sie auf die Couch und bescheinigt ihr Pogrombereitschaft gegen Minderheiten. So was nennt man dann wohl Deutungshoheit in einer Debatte. Sie ist immer sehr weit oben angesiedelt.

Einige Tage später besuchte ich im Hamburger Völkerkunde-Museum die Veranstaltung "Grüne Bewegung im Iran: Wie geht es weiter?" Im Auditorium Lehrer, Architekten, kultivierte Pensionäre, bildungsnahe schöne junge Iranerinnen und Iraner. Grüne Handzettel für Ali Samadi Ahadis Film "Green Wave" lagen aus. Es sprach die Politologin Saba Farzan, die optimistisch hochrechnete, dass die iranische Bevölkerung womöglich in drei Jahren die islamofaschistische Last der schiitischen Mullahs und ihrer fundamentalistischen Revolutionsgarden abgeschüttelt haben könnte.

Als ich sie in der Pause auf Sarrazin ansprach, schämte ich mich ein wenig. Das war so, als käme man von Verwüstungen durch einen Orkan auf Probleme mit dem Fön zu sprechen. "Sarrazin?" Na, ob sie auch Angst habe, wie Samadi Ahadi? Sie lachte. "Nein, und ich glaube auch nicht, dass er vor Sarrazin Angst hat", sagt sie. "Im Übrigen sagt Sarrazin nichts Neues, das alles haben Necla Kelek und Kirsten Heisig schon vor ihm festgestellt - es wissen doch alle, dass es Integrationsprobleme gibt." Wie angenehm sie klang, diese Bereitschaft zur Hysterielosigkeit.

Nachtrag: Beeindruckt von der Sarrazin-Debatte forderte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer am Wochenende dringend den Zuzug von kinderliebenden katholischen Einwanderern, sonst drohe seinem Bundesland der demografische Kollaps - wie bunt und vielfältig doch die Wirkungen eines Buches sein können! Der Osten braucht Katholiken, wer hätte das gedacht!

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren