
Schimmelpfennig in Wien: Theater als Puzzle
Schimmelpfennig-Uraufführung in Wien Moritat für Mitte
Es ist ein Idyll, dass es kaum zum Aushalten ist. Leuchtende Kinderaugen, glühende Backen, gepflegte, etwas erschöpfte Mütter, gut angezogene Väter, die direkt aus dem Büro kommen, "einzelne rote Wolken" am Abendhimmel.
Roland Schimmelpfennigs neues Stück spielt an Sankt Martin in Berlin-Mitte, beim Laternelaufen. Man ahnt schnell, dass das Idyll trügt: "Die Straße / ist der schmale Grad / zwischen dem Himmel / und der Hölle", raunt eine Stimme, eine andere erzählt: "Nach Einbruch der Dunkelheit / fährt ein großer / schwarzer Wagen / durch die Straßen der Stadt, / und holt unsere Kinder."
Ein Autounfall zerstört in "Das fliegende Kind" die scheinbar heile Welt einer dieser furchtbar bürgerlichen Berlin-Mitte-Familien, die gerade, vermutlich den Kindern zuliebe, an den Stadtrand gezogen ist.
Aber schon vor dem Unfall zeigt Schimmelpfennig die Risse in diesem Familienidyll: Die Mutter ist während des Sankt-Martins-Gottesdienstes mit den Gedanken woanders, der Vater hat noch einen dringenden Termin und will nicht sagen, worum es sich handelt. Und genau diese Umstände führen dann zur Katastrophe. Der Autor ist ein Moralist.
Skizzen im Kopf
Roland Schimmelpfennig, 44, der als meistgespielter, erfolgreichster deutschsprachiger Dramatiker seiner Generation gilt, inszeniert die Uraufführung seines Stückes selbst, wie er es meistens tut, seit der Regisseur Jürgen Gosch 2009 im Alter von 65 Jahren starb. Die Verbindung zwischen Gosch und Schimmelpfennig muss man wohl als Symbiose bezeichnen, und Schimmelpfennig ist als Regisseur ein Meisterschüler Goschs. An seiner Seite ist auch wieder Johannes Schütz, der schon bei Gosch fast alle Bühnenbilder machte.
Schimmelpfennig hat sein neues Stück im Auftrag des Burgtheaters geschrieben, und dort, im kleinen Haus, dem Akademietheater, soll es am Samstag auch herauskommen, mit Burgtheater-Größen wie Christiane von Poelnitz und Johann Adam Oest.
Der Erfolgsdramatiker lässt in "Das fliegende Kind", wie es typisch ist für seine Stücke, mehrere Figuren (drei Frauen und drei Männer sind es diesmal) aus unterschiedlichen Perspektiven die Geschichte erzählen, so dass der Zuschauer sie sich selbst wie ein Puzzle nach und nach aus den Skizzen im Kopf zusammensetzen muss. Das ist der Reiz.
Bauarbeiter kommentieren das Geschehen
Auch wenn sich die allwissenden Erzähler immer wieder für Momente in die Figuren hineinbegeben, sind es nicht die unmittelbar Beteiligten, die zu Wort kommen. Und erzählt wird nicht nur von dem, was in der Kirche und später auf der Straße passiert. Es gibt bei Schimmelpfennig noch eine andere Erzählebene, in diesem Fall sind es, wörtlich genommen, sogar zwei: Unter der Erde kommentieren Bauarbeiter das Geschehen, das sie von oben hören, aber nicht sehen können, und philosophieren über Wissenschaftler, die den Zusammenhalt der Welt erforschen: über Physiker, die "die kleinsten Teile dieser Welt" zusammenstoßen lassen. "Nur was passiert, wenn diese Teile zusammenstoßen? Sie zerspringen und verschmelzen gleichzeitig, und so entsteht ein schwarzes Loch."
Über der Erde, auf dem Kirchturm, sitzt ein anderer Mann, beobachtet das Laternelaufen und redet mit dem Kind, das nach dem Unfall zu ihm geflogen kommt, ein bisschen wie die Engel in Wim Wenders' "Himmel über Berlin" .
In diesen surrealen Elementen, die in Schimmelpfennigs früheren, viel versponneneren Stücken deutlich stärker und autonomer waren, versteckt der Autor die Moral seiner Geschichte. Es geht um Lebenslügen, um die ständige Unzufriedenheit mit dem Erreichten, um das zu hohe Tempo des Großstadtlebens. "Wir leben falsch", sagt eine der Figuren, "wir müssen alles vollkommen neu denken, alles in Frage stellen."
"Das fliegende Kind" ist das perfekte Stück für die Bewohner von Berlin-Mitte. Es wird ein Erfolg werden, denn zum Glück für Schimmelpfennig gibt es die längst auch in München, Hamburg, Wien und Zürich.
Das fliegende Kind. Uraufführung am 4.2. im Akademietheater Wien. Auch am 6., 7., 10., 13. und 27.2., Tel. 0043/1/514 44 41 40, www.burgtheater.at