Margarete Stokowski

Selbstoptimierung Ausschlafen als revolutionärer Akt

Morgenroutinen sind in, Schlafmangel gilt als Erfolgsfaktor, Liegenbleiben wirkt verdächtig. Dabei bliebe uns - und anderen - viel Leid erspart, wenn wir endlich ausschlafen würden.

Frühaufstehen ist die dümmste Ideologie unserer Zeit. Das soll natürlich nicht heißen, dass alle bekloppt sind, die früh aufstehen. Job, Kinder, Pinkeln, es gibt gute Gründe. Das Problem ist, dass es zu viele Menschen gibt, die dem Frühaufstehen einen moralischen Wert beimessen, obwohl es keinen hat. Früh aufzustehen ist genauso gut oder schlecht wie spät aufzustehen, aber es wird nicht so behandelt. Frühaufstehen wird gleichgesetzt mit Leistungsfähigkeit, Energie, Disziplin. Spätaufstehen wird gleichgesetzt mit Faulheit, Depression, mangelnder Triebkontrolle.

Man könnte meinen, diese Bewertung sei ein Sonderproblem von Konservativen, KapitalistInnen oder ProtestantInnen, aber die Fetischisierung des frühen Aufstehens findet sich in allen möglichen politischen und gesellschaftlichen Milieus und Altersklassen. Was der Generation Ü50 ihr "Morgenstund hat Gold im Mund" und "früher Vogel fängt den Wurm", ist den Leuten U50 ihre "Morgenroutine".

Seit einer Weile ist gefühlt das halbe Internet voll mit jungen Menschen, die einander von ihrer Morgenroutine berichten. Wenn Sie davon noch nichts gehört haben, googeln Sie mal. Morgenroutine ist aktuell das Ding auf Instagram, YouTube, in Magazinen und Blogs: Der perfekte Start in den Tag, Yoga-Übungen für deinen Power-Morgen, Tipps für Morgenroutine mit Hund.

Das wäre erst mal irgendwie okay, aber: Fast alle InfluencerInnen, die von ihrer Morgenroutine berichten, erzählen von Aufstehzeiten zwischen fünf und sieben Uhr früh, auch wenn sie freiberuflich arbeiten und keine Kinder haben, und das muss vermutlich so sein, sonst bleibt keine Zeit für all die Dinge, die man in dieser Routine zu erledigen hat: Sport, Lesen, Meditieren, Dankbarkeitstagebuch (besser nicht googeln), Zeitung lesen, zu einer eigens angelegten Produktivitätsplaylist des Tages auf der Yogamatte tanzen (kein Witz, reales Beispiel), gesundes Frühstück. Manche erzählen auch, sie hätten die perfekte Aufstehzeit noch nicht gefunden, sie schwanken zwischen 6:15 und 6:30.

"Morgenroutine" beschreibt eigentlich nur das Phänomen, dass Menschen sich gut fühlen, weil sie, je nach Betrachtungsweise, erwachsen oder spießig geworden sind. Sie machen jeden Morgen sehr früh dasselbe und fühlen sich deswegen voller Energie - und anderen überlegen: Schon richtig was wegmeditiert, bevor ihr alle aufgestanden seid, ihr Loser. Niemand unter den Morgenroutine-JüngerInnen berichtet davon, um 11 Uhr aufzustehen, obwohl es rein statistisch auch welche geben müsste, für die das die beste Zeit ist.

Ein Megahit unter den Morgenroutine-Tipps ist der Rat, jeden Morgen sofort nach dem Aufstehen das Bett zu machen: Weil man dann "schon mal etwas geschafft" hat. Man suggeriert sich einfach, das Bett zu machen sei quasi der erste Schritt zum Erfolg. Das mag für Menschen mit bestimmten Krankheitsbildern zutreffen, für gesunde Menschen ist es gelebte Selbstverarschung.

Frühaufstehen ist Pseudotugend

Frühaufstehen ist eine vollkommen überschätzte, potenziell ungesunde Pseudotugend, deren vermeintlicher Wert viel zu selten hinterfragt wird. Wer spät aufsteht, macht sich verdächtig. Ich führe quasi eine lebenslange Studie dazu. Einer der Gründe, warum ich mich für die Arbeit als freie Autorin entschieden habe, ist, dass man dann schlafen gehen und aufstehen kann, wann man will. Wenn ich Leuten sage, dass sie mich nicht vor 12 Uhr mittags anrufen sollen, weil ich da noch schlafe, und lieber erst ab 14 Uhr: unbezahlbarer Blick. Eine Mischung aus Ungläubigkeit, Verachtung und Neid. Wenn ich dazu dann aber sage, dass ich bis 4 oder 5 Uhr früh arbeite: großes Aufatmen. Aaah, der Arbeit wegen, na dann geht es ja!

Ich höre sehr oft, dass sich das mit meinem späten Tagesrhythmus erledigt haben wird, sobald ich ein Kind bekomme. Kann sein. Aber gerade deswegen ist es wichtig, Frühaufstehen als politisches Problem anzugehen. Traditionell werden Menschen in der Literatur zu diesem Thema in sogenannte Lerchen (früher Rhythmus) und Eulen (später Rhythmus) eingeteilt , wobei WissenschaftlerInnen davon ausgehen, dass nur 40 Prozent der Erwachsenen eindeutig zu einem der beiden Typen gehören, was hauptsächlich auf genetische - und Umwelteinflüsse sowie das Alter und Geschlecht zurückzuführen ist. Der Rest bewegt sich eher im mittleren Bereich und ist eher anpassungsfähig.

Das heißt aber auch: Es ist keineswegs so, dass eben die meisten Menschen qua Genetik Lerchentypen sind und sich deswegen - sozusagen aus demokratischen Gründen - so vieles im Alltag an ihren Präferenzen orientiert. Es gibt keine guten Gründe dafür, frühes Aufstehen und Schlafmangel zu glorifizieren, außer man findet, Pflicht und Profit gehen über Glück und Gesundheit.

Es gibt schon lange immer wieder Forderungen danach, den Schulunterricht später anfangen zu lassen, weil Jugendliche eher sogenannte Eulentypen seien. Aber auch Erwachsene leiden unter der Herrschaft des früh klingelnden Weckers. Es ist natürlich nicht allein der Fetisch des Frühaufstehens Schuld an der mittlerweile als normal geltenden Dauerübermüdung vieler Menschen . Auch die Tatsache, dass es heute elektrisches Licht und Netflix gibt, kann den Zustand nicht hinreichend erklären. Nein, es liegt auch daran, dass Schlafen im Kapitalismus nicht als wertvolle Tätigkeit gesehen wird.

Wenn Sie über das Wort "Tätigkeit" gestolpert sind, dann haben auch Sie diesen Gedanken verinnerlicht, fürchte ich. Jonathan Crary beschreibt in seinem (äußerst empfehlenswerten) Buch "24/7. Late Capitalism and the End of Sleep" unter anderem die lustige Tatsache, dass wir für Geräte einen "Schlafmodus" kennen - ein Zustand, in dem sie nicht ausgeschaltet sind, aber eine eingeschränkte Funktionalität besitzen. Als wäre Schlaf nicht wesentlich mehr, als dass ein paar Funktionen fehlen. "Schlaf ist", schreibt Crary, "die kompromisslose Unterbrechung der uns vom Kapitalismus geraubten Zeit."

Doch statt einer Rebellion für schlaffreundlichere Strukturen bieten Unternehmen die Produkte zum besseren Einschlafen oder Wachwerden an, und die Übernächtigten greifen gerne zu. Und statt angesichts der vielen Unfälle und Fehler, die Menschen passieren, wenn sie nicht ausgeschlafen sind - wer längere Zeit nicht richtig geschlafen hat, ist so zurechnungsfähig wie ein betrunkener Mensch  - den Schlaf wieder mehr zu schätzen, hört man, dass "Achtsamkeit" das neue Ding ist, die Lösung für alles.

Meine These: Der ganze Achtsamkeitszirkus ist nur der Versuch, trotz chronischen Schlafmangels konzentriert zu bleiben. Selbstoptimierung unter maximaler Ignoranz körperlicher Bedürfnisse. Statt Achtsamkeitsbücher zu lesen oder -Apps zu benutzen, könnten Leute auch länger schlafen - wenn das System es ihnen erlauben würde: flexible Arbeitszeiten, Kitazeiten, späterer Schulanfang, alles Systemfragen.


Im Video: Viele Wege, ein Ziel - erholsamer Schlaf

SPIEGEL TV


Wen das alles nicht überzeugt, dem sei nur noch eine Info mit auf den Weg gegeben, die unsere Wertschätzung fürs Ausschlafen ins Unermessliche steigern sollte. Ausschlafen hat quasi das Ende von Hitlers Diktatur eingeläutet (nur wenig vereinfacht ausgedrückt). Als die Alliierten 1944 in der Normandie landeten, war es noch sehr früh am Morgen. Hitler schlief noch (was der endgültige Gegenbeweis sein sollte, falls Sie dachten, ich möchte mit diesem Text sagen, dass SpätaufsteherInnen die besseren Menschen sind). Der zuständige Generaloberst entschied, noch keine Panzerdivisionen loszuschicken und so lange zu warten, bis Hitler aufgestanden war - verschiedene Quellen sagen, irgendwann zwischen 9 und 10 Uhr  - und erst dann wurde mit ihm die Lage besprochen. So viel zu "Deutschland, erwache".

Wie viel Leid bliebe uns erspart, wenn mehr Menschen länger schlafen würden? Immer wieder hört man beachtliche Geschichten darüber, mit wie wenig Schlaf besonders produktive Manager, Politikerinnen, geistliche Führungsgestalten angeblich auskommen, als wäre das eine Eigenschaft, die sie adeln würde und nicht einfach potenzielle Selbstzerstörung. So wie "Fridays for Future" dafür kämpft, die Ressourcen der Erde zu schützen, sollte sich eine Bewegung zusammenfinden, die die Ressourcen der Menschen schützt, indem sie für flexiblere und insgesamt längere Schlafzeiten kämpft.

"Aufstehen" hat als Bewegung ja nicht so gut geklappt. "Liegenbleiben" hätte großes Potenzial.

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