Schock-Kompanie La Fura dels Baus Vorhang auf für Terror
Im kleinen Provinztheater von Molina de Segura wird "Boris Gudonov" aufgeführt. Plötzlich unterbrechen ohrenbetäubende Schüsse die Vorstellung. Verängstigt schauen die Schauspieler um sich. Terroristen mit Tarnanzügen, schwarzen Sturmhauben und Kalaschnikows stürmen die Bühne, verteilen sich im Theater, schießen schreiend in die Luft.
Das Publikum fährt erschrocken zusammen. Wild schreien die vermummten Terroristen auf die Zuschauer ein, bringen Strengstoff an den Theaterausgängen an. Im Hintergrund läuft bedrohliche Musik. Aufgeregt schauen die Zuschauer in den Lauf vorgehaltener Kalaschnikows. Sie werden bewacht. Sie sind zu Geiseln geworden.
"Boris Gudonov" ist nur etwas für nervenstarke Zuschauer. Zumindest die Version der bekannten spanischen Schock-Theatergruppe La Fura dels Baus (deutsch: die Kanalratten), die gestern Abend in Molina de Segura, einem Nest in der Nähe der südspanischen Küstenstadt Murcia uraufgeführt wurde.
Panikmache als Verfahren
Wüsste man nicht, dass es sich um eine Theater-Vorführung handelt, könnte man einen Nervenzusammenbruch bekommen, so realistisch wirkt die Geiselnahme. Denn das neuste Paniktheaterwerk der Spanier basiert auf der Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater im Oktober 2002.
Damals hielten Terroristen während des Musicals "Nord-Ost" über 800 Theaterbesucher drei Tage lang gefangen. Sie forderten das Ende des Tschetschenien-Krieges und den sofortigen Rückzug der russischen Truppen. Die Geiselnahme wurde am dritten Tag blutig von russischen Spezialeinheiten beendet. Man setze zur Befreiung der Geiseln ein Betäubungsgas ein, das wahrscheinlich zu hoch dosiert war. Neben den 47 Terroristen starben auch 130 Zuschauer.
"Mit dieser Inszenierung klage ich weder das Verhalten der russischen Regierungen, noch die Gründe der Geiselnahme der tschetschenischen Terroristen an. Es geht nur um die Verurteilung jeglicher Form des Terrorismus", erklärt Regisseur Alex Ollé im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE.
Und wie er den Terrorismus ins Theatralische übersetzt, ist zumindest beeindruckend. Das Publikum soll den Terror spüren, um die Kritik zu verinnerlichen. "Die Zuschauer werden erleben, was es bedeutet, bewaffneten Terroristen ausgeliefert zu sein. Ich will ihnen hautnah zeigen, wie grausam sich Terror anfühlen kann", verspricht Regisseur Ollé und verspricht damit nicht zu viel.
Monströser Medienmix
Die Theater-Geiseln in Segura de Molina müssen die Machtkämpfe und Streitereien zwischen der Terroristen ertragen. Immer wieder werden die Szenen durch Fernseh-Übertragungen und Video-Liveschaltungen aus dem Krisenstab der Regierung gezeigt, wo über Leben und Tod hunderter Menschen entschieden werden muss.
Eine Vermittlerin der Regierung kommt plötzlich ins Theater, versucht die Zuschauer zu beruhigen. Die heftigen Verhandlungen hinter der Bühne mit den Terroristen, welche die wahren Geiseln in Moskau 2002 nicht verfolgen konnten, bekommt man in Segura de Molina per Videoschaltung mit. Auch die Fluchtversuche einiger fiktiver Zuschauer, die darüber diskutieren, ob ihre Aktion nicht andere Menschenleben in Gefahr bringt.
Immer wieder wird die Aufführung durch Szenen aus "Boris Godunov" unterbrochen. Die Wahl fiel nicht zufällig auf Alexander Puschkins Werk. Das Stück handelt von Korruption und Machtkämpfen im russischen Zarenreich.
Doch vielen sind noch gut die Fernsehaufnahmen des Moskauer-Geiseldramas in Erinnerung. Die Vorstellung, dass diese Geschehnisse vor nur sechs Jahren wirklich passierten, stimmen nachdenklich. "Ich wollte unbedingt dieses Thema auf die Bühne bringen. Ich war geschockt, dass der Terror in meine Welt eingebrochen ist. Das Theater ist mein Arbeitsplatz und ein Ort, wo schöne Dinge passieren und plötzlich sah ich diese Welt 2002 vom Terror erfasst", erklärt Ollé seine Motivation.
Schock und schwere Not
Kritische Stimmen, die den makaberen Hintergrund des Stücks verurteilen, fehlen nicht. Auch Ollé weiß, dass besonders in Spanien, wo die Terrororganisation ETA seit über 40 Jahren gewaltsam für die Unabhängigkeit des Baskenlandes kämpft und dafür bereits 815 Menschen tötete, solche Aufführungen zumindest umstritten sind. Seit den islamistischen Zugattentaten vom 11. März 2004, bei denen 191 Menschen in Madrid ums Leben kamen, sind solche Inszenierungen ein gesellschaftliches Pulverfass.
Doch der Schock ist eben das zentrale Element in der Ästhetik von La Fura dels Baus. Schon seit 25 Jahren setzt die wohl berühmteste spanische Theatergruppe auf den Tabubruch. Waren es vor einigen Jahren die drastischen Sex- und Vergewaltigungsszenen in "XXX", die die Zuschauer mit den Ideen des Marquis de Sade quälten, handelt es sich nun um terroristische Gewalt.
"Das Theater hat eine kathartische Funktion, und eine der tiefsten Ängste in der heutigen Zeit ist nun mal der Terrorismus", erklärt Alex Ollé die Dramaturgie. Wie echt und beängstigend ein solches Provokationstheater sein kann, beweisen schon allein die Proben in Barcelona. Mehrere Passanten, die an der Glasfassade des Theaters vorbeikamen, riefen beunruhigt die Polizei.