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Ende der "Spex": Wer hat Tocotronic erfunden?

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Sexismus im Musikjournalismus Unerhört

Die letzte Ausgabe der gedruckten "Spex" erscheint. Noch viel seltener als Menschen, die das Popmagazin lasen, gab es aber Frauen, die dafür schrieben. Warum?
Von Kerstin Grether und Sandra Grether
Zu den Autorinnen
Foto: Volker Ißbrücker

Sandra Grether ist Musikerin, Autorin und Labelbetreiberin - sie schrieb, mit Unterbrechungen, 16 Jahre frei für die "Spex". Kerstin Grether ist Schriftstellerin und Sängerin, von 1994 bis 1997 war sie Redakteurin bei der "Spex". Die Zwillingsschwestern leben in Berlin, spielen gemeinsam in der Band Doctorella und betreiben den Blog "Ich brauche eine Genie" . Dieser Text erschien in einer längeren Version als erstes bei "Texte zur Kunst" .

"Some people think that little girls should be seen and not heard / But I think: Oh bondage up yours!" (X Ray Spex)

Als Teenagerinnen kleideten wir uns zwar so lederpunk wie die wilden Kreaturen, die in der "Spex" abgebildet waren, besuchten aber eine Realschule in einem Dorf in der Nähe von Heidelberg - zählten also nicht gerade zum üblichen "Spex"-Leser-Zirkel. Wir waren weder männlich noch Ende 20, verfügten nicht über ein abgeschlossenes Hochschulstudium und waren nicht in der Großstadt geboren.

Bezeichnenderweise benannte sich die "Spex" in Anlehnung an die frühe englische Punkband X Ray Spex, damals eine der wenigen weiblichen Stimmen des Punkrocks. Punk war mit antisexistischen Ansprüchen angetreten, die er aber in der Praxis nicht einlösen konnte. Auf dem Cover der allerersten Ausgabe im September 1980 wurde ein Text über die Düsseldorfer Frauenpunkband Östro 430 angekündigt, im Artikel selber wurden die Musikerinnen allerdings schon in der ersten Frage mit ihrer angeblichen Inkompetenz konfrontiert: "Womit macht ihr denn Musik? Ihr habt doch gar keine eigene Anlage."

So blieb es die nächsten 30 Jahre. Als wir von Leserinnen zu Autorinnen geworden waren, galt: Wenn nicht gerade eine von uns beiden einen Artikel über Musikerinnen aus Deutschland schrieb, wurden diese meistens ignoriert - und mit ihnen eine stetig wachsende lokale Szene aus Indierock Acts von Frauen, Queers und trans* Frauen. Immer waren es die deutschsingenden männlichen Indierock-Acts, anhand derer die Geschichte der Zeitschrift erzählt wird - bis man nicht mehr wusste, ob Tocotronic die "Spex" erfunden hat oder die "Spex" Blumfeld.

In der gesamten 38-jährigen Geschichte waren nur sieben Mal weibliche Musikerinnen aus Deutschland auf dem Cover der Zeitschrift, wir haben nachgezählt. In der "Spex" hat man immer schon gedacht, wenn man über das weibliche "next big thing" aus Übersee oder über die gerade noch für "edgy" und "cool" befundenen nordamerikanischen Pop-Superstars schreibt, dann wäre das Musikerinnen-Potenzial bereits so gut wie abgedeckt.

Wir erinnern uns an erbitterte Wortgefechte in der Redaktion, als wir versuchten, die Rap-Pionierin Cora E. aufs Cover zu hieven. Heute gilt Cora E. als eine der Erfinderinnen des politischen Deutschrap.

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Also gut, er würde mal eine Nacht drüber schlafen, verkündete der zuständige Musikredakteur damals gnädig, nur um ein mögliches Cover am nächsten Tag endgültig in den Bereich der unerträglichsten Ideen der Welt zu verbannen: "Also sorry, ich habe mir nochmal ganz genau die Bilder von der guten Cora angeschaut. Das geht wirklich nicht. Die hat so eine Pferdemädchenfresse, das ertrage ich nicht. Ich kann mir die kaum anschauen, außerdem verlieren wir dann Leser". Dass Cora E. mit "Schlüsselkind" gerade die wichtigste Hymne für alle Scheidungskinder, Nichtspießer, Töchter alleinerziehender Mütter geschrieben hatte, machte sie in seinen Augen nicht zum Cover-Star.

Es gab mit Wibke Wetzker zu Beginn der 2010er nur einmal seit den frühen Achtzigern eine weibliche Chefredakteurin (die sich den Job mit einem Kollegen teilen musste). Noch auffälliger ist, dass in der "Spex", außer in der legendären Frühphase, noch nie eine Frau einen Job als Musikredakteurin hatte. Ich, Kerstin, hatte Mitte der Neunziger direkt nach dem Abi den weitaus schlechter bezahlten Kulturredaktionsjob bekommen, obwohl mein Spezialgebiet die Musik war. Eine gescheite Filmkritik hatte man von mir noch nie gelesen.

Das Klima: feministischer Backlash

Eine meiner ersten Handlungen war so trotzdem, Autorinnen nach Musik-Beiträgen zu fragen. Es stellte sich heraus, was ich vorher schon gewusst, zumindest geahnt hatte: Es gab keine auf eine einzelne oder mehrere Musikrichtungen spezialisierte Musikjournalistin, die es mit dem "coolen Wissen" und dem hohen Grad der Spezialisierung der Jungs aufnehmen konnte. Sie waren noch viel seltener als Frauen, die Musik machten.

Dann eben keine Artikel über Neofolk, Raggamuffin oder Post-Hardcore-Free-Jazz. Sondern Texte über Kultur, die Autorinnen da abholten, wo sie waren. Die ansonsten männerbesetzte Redaktion behandelte meine neue Idee, über feministisch-dekonstruktivistische Theorien zu schreiben, als würde es sich dabei um eine hochartifizielle, schwierige Kunstrichtung aus Paris handeln. In Deutschland herrschte in den Neunzigern ein Klima des feministischen Backlashs. In der "Spex" zeigte man sich zwar offen für Spannendes von Frauen, aber es blieb auch immer das "Andere", die Nische.

Außerdem ordneten die von der New Wave geprägten Macher*innen der Zeitschrift den Feminismus eher einem herbeifantasierten Milieu von grünem Öko-Spießertum zu (das die "falsche Musik" hört), als einer nötigen Haltung zu Diversität - eine unbewusste Ausgrenzungsstrategie. Auch grassierte ein Klassismus, der sich nur auf Frauen bezog: Wenn ein "Spex"-Autor in einer Review zum Ausdruck bringen wollte, dass er eine bestimmte Band oder ein Musikstück besonders scheiße fand, griff er oft auf die beliebte Formel zurück, das sei "Musik für Verkäuferinnen und Hausfrauen".

Man sollte keine Experimente mit Unterdrückten machen

Was mir die Arbeit am meisten erschwerte, war die ständige Zuschreibung von "Hysterie", brannte ich für ein Thema. Bei männlichen Musikjournalisten, die sich durch ein leicht erhitzbares Temperament auszeichneten, wurde schnelles, emotional geprägtes Sprechen vollkommen anders gewertet. Sie galten als besonders leidenschaftliche Fürsprecher für ihre Sache.

Salt-N-Pepa-Cover 1988: "Mit dieser Frau geht die 'Spex' in den Untergang",

Salt-N-Pepa-Cover 1988: "Mit dieser Frau geht die 'Spex' in den Untergang",

Foto: Spex

Zumal bei der "Spex" damals die Personalpolitik verfolgt wurde, dass jeder in der Redaktion mit seinem "menschlichen" Gegenteil konfrontiert wurde, um im inneren Kreis für das streiten zu müssen, wofür man auch nach außen stand, eine Strategie aus der Warhol Factory. So wurde der trinkfeste Chefredakteur mit dem Straight-Edge-Kollegen in einen Raum gesetzt, die Hip-Hop-Fraktion sollte sich ununterbrochen mit der Rock-Fraktion streiten, und klar: die Feministin mit dem sich selbst als "politisch korrekt" bezeichnenden Macho. Als ob der "Geschlechterkampf" zwei gleichstarke Gegner hervorgebracht hätte, die nun auf Augenhöhe streiten können.

Unter diesen Umständen überhaupt noch so eine gute Zeitschrift gemacht zu haben, ist etwas, das ich mir den Rest meines Lebens zugute halten werde. Denn wenn Träger des männlichen Privilegs so tun, als wären sie auf einer Augenhöhe mit weniger privilegierten Personen, weshalb sie ihnen auch ununterbrochen Grenzen setzen dürfen, dann ist das alles andere als lustig - und nur bedingt produktiv. Man sollte keine Experimente mit unterdrückten Personengruppen machen: Sexismus, Homophobie, Rassismus sind keine "Meinungen" über die man diskutieren kann wie über ein neues Album von Maximo Park.

"Mit dieser Frau geht die 'Spex' in den Untergang", prophezeite ein langjähriger Mitarbeiter. In Wirklichkeit führten einige Änderungen, die ich in meiner Zeit als Redakteurin durchsetzte, dazu, dass die Leute auch zwanzig Jahre später noch von dieser "political-correct-'Spex'-Phase" schwärmen, in der sich das Magazin an der neuen Linken orientierte, die Forderungen von Außenseitern ins Zentrum stellte.

Ich versuchte,

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die Zeitschrift so feministisch wie möglich zu gestalten. Jede Autorin, die einen "Spex"-kompatiblen Text schreiben konnte, wurde von mir mit Kusshand aufgenommen. Es war eine Genugtuung. Sie schrieben über kulturzentrierte Themen, über das Internet, Fernsehserien, Comic-Heldinnen. Den Pop-Aspekt mitzudenken war der Anfang, bevor dann die totale Musikspezialisierung einsetzen würde, so hoffte ich. In manchen Fällen war das auch so, wenn etwa eine Mitarbeiterin, die zuerst in der "Spex" geschrieben hatte, ein Magazin für elektronische Musik gründete. In den Nuller- und Zehnerjahren gab es in der "Spex" mehr freie Autorinnen, Kolumnistinnen und Redakteurinnen.

Und heute? Musikstreaming killed the Plattensammlungs-Star. Und leider auch die "Spex" selbst, die am 27.12.2018 ihre letzte Ausgabe veröffentlicht, danach soll es mit neuem Konzept digital weitergehen. Die Werbekunden suchen sich ihre Influencer*innen lieber im Internet. Wollen wir mal hoffen, dass das Spiel jetzt nicht wieder von vorne beginnt und auch Musikautorinnen zu diesen Influencer*innen gezählt werden. Zur Not machen wir die Sache aber auch nochmal klar.


Die Autorinnen möchte denen danken, die sich bei "Spex" für Diversität eingesetzt haben, u.a. den Herausgeberinnen Clara Drechsler und Jutta Koether, den Redakteurinnen Jacqueline Blouin, Annika Reith und Jennifer Beck, der Geschäftsführerin Doris Volk, den Grafikerinnen Andrea Mündelein und Sabine Pflitsch sowie den Redakteuren Mark Terkessidis und Manfred Hermes.

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