Sexualität und Islam "Mohammed war in gewisser Weise Feminist"

Syrer beten in einem türkischen Flüchtlingscamp: "Etwas zu verstehen, bedeutet aber auch nicht, es zu entschuldigen."
Foto: Cem Turkel/ dpa
Shereen El Feki wuchs als Tochter eines Ägypters und einer Britin in Kanada auf und studierte Immunologie. Später arbeitete sie als Journalistin u.a. für den Sender Al Jazeera, außerdem für die Uno. 2013 erschien ihr Buch "Sex und die Zitadelle. Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt". Derzeit arbeitet sie mit der NGO "Promundo" an einer breiten Studie zu Sexualität im arabischen Raum. El Feki pendelt zwischen London und Kairo.
SPIEGEL ONLINE: Frau El Feki, Sie leben in Kairo und London. Wo fühlen Sie sich sicherer vor sexueller Gewalt?
El Feki: Ich bin kein gutes Beispiel. Ich bin Ausländerin in Ägypten und werde auch immer so wahrgenommen - wie es den Frauen im Alltagsleben geht, vermag ich nicht zu bewerten. Ich weiß natürlich, worauf Sie mit Ihrer Frage hinauswollen. Ja, sexuelle Gewalt spielt eine große Rolle in Ägypten. Umfragen der Uno haben ergeben, dass 99 Prozent aller ägyptischen Frauen schon mal sexuell belästigt wurden. Trotzdem: Es gibt auch Fortschritte.
SPIEGEL ONLINE: Wo sehen Sie die bei dieser hohen Quote?
El Feki: Vor zehn Jahren war das Thema sexuelle Gewalt noch absolut tabu, heute ist es Gespräch. Die sexuellen Attacken auf dem Tahrirplatz ab 2011 waren der Auslöser, weil sie viele Menschen dazu brachten, sich offen zu äußern. Viele der Konservativen, die damals argumentierten, die Frauen seien nicht angemessen angezogen gewesen, trauen sich heute nicht mehr, das so auszusprechen. Sie mögen es noch denken. Aber sie schweigen, weil sich der öffentliche Diskurs geändert hat. Das hat natürlich auch mit dem Opportunismus der aktuellen Regierung zu tun: Weil sich Al-Sisi zumindest nach außen hin von den Muslimbrüdern distanzieren will, kriminalisiert er sexuelle Belästigung. Für andere Bereiche gilt das nicht. Im Namen der Religion werden in Ägypten Homosexuelle nach wie vor ins Gefängnis geworfen.
SPIEGEL ONLINE: Über Ägypten hinaus - beobachten Sie im arabischen Raum länderübergreifend eine Ausweitung von Frauenrechten?
El Feki: Ich kann in dieser Debatte nur vor jeder Verallgemeinerung warnen. Ich kann nicht über Millionen Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen sprechen. Klar ist nur: Der Aufstieg des "Islamischen Staates" (IS) hat in vielen arabischen Ländern eine Debatte darüber ausgelöst, was mit dem Islam passiert. Wer spricht in seinem Namen und bestimmt so auch Vorstellungen von Sexualität mit? Durch Abgrenzung vom IS finden viele junge Araber ihre Stimme. "Das ist nicht mein Islam" ist die Wendung, die Sie dann in sozialen Netzwerken lesen können. Häufig hören wir in den westlichen Massenmedien aber nur von den Männern, die Frauen belästigen. Die, die sich in Projekten und Initiativen gegen Sexualgewalt stellen, finden kaum statt. Der Posterboy des Jahres 2016 wird in den westlichen Medien der Flüchtling mit einem Abschiebebescheid in der Hand sein. Das ist verkürzt und manchmal auch rassistisch. Liegt aber auch daran, dass der Diskurs über den Islam während der letzten Jahrzehnte vor allem von fundamentalistischen Stimmen geprägt war und so auch von konservative Interpretationen des Korans. Tatsächlich hat der Islam aber auch Potenzial für gleichberechtigtes Leben. Islamische Feministinnen weisen seit Jahren immer wieder darauf hin.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie ein Beispiel für dieses Potenzial?
El Feki: Das geht zurück bis zum Propheten Mohammed, der von starken Frauen umgeben war. Er äußerte sich auch sehr klar zu Sex, sagte etwa, dass auch die Frau den Geschlechtsverkehr genießen solle. In gewisser Weise war er Feminist.
SPIEGEL ONLINE: Es gibt aber eben auch diese reaktionären Interpretationen des Islam, die sexuelle Gewalt von Männern mit dem Koran rechtfertigen.
El Feki: Sexualität ist das, was uns als Menschen zentral ausmacht. Sie durch Berufung auf eine höhere Autorität zu kontrollieren, ist also eine verdammt gute Möglichkeit, um Macht auszuüben - das hat der Islam erkannt, wie auch schon andere Religionen. Konservative Auslegungen des Christentums oder des Hinduismus funktionieren da genauso.
SPIEGEL ONLINE: Das bedeutet aber noch nicht, dass man sich als Mann automatisch dieser Macht beugen muss.
El Feki: In autoritären Systemen, die stark auf Religion fußen, ist es jedoch schwierig, sich dieser Interpretation zu entziehen. Es gibt aber darüber hinaus bestimmte universelle Faktoren, die ausschlaggebend dafür sind, ob ein Mann gegenüber Frauen gewalttätig wird. Studien der Uno belegen, dass sich die Umstände, in denen Männer daheim oder öffentlich gegen Frauen gewalttätig werden, weltweit ähneln: Männer werden zum Beispiel wahrscheinlicher gewalttätig, wenn sie als Kinder selbst Opfer von Gewalt wurden. Wenn sie mitbekamen, dass ihrer Mutter vom Vater oder einem anderen Mann Gewalt angetan wurde. Wenn sie denken, dass das System sie damit davonkommen lässt. Dazu kommt vermutlich noch ein starker Einfluss von Arbeitslosigkeit, die liegt in vielen arabischen Ländern im zweistelligen Prozentbereich. Wenn du als junger Mann in arabischen Ländern keinen Job bekommst, hat das tiefgreifende Konsequenzen.
SPIEGEL ONLINE: Weil du nicht als Versorger funktionierst?
El Feki: Es wird schwieriger auszudrücken, dass du nach konventionellen Vorstellungen ein richtiger Mann bist. Du kannst nicht aus dem Haus deiner Eltern ausziehen, nicht heiraten. Und hast dann auch keinen regelmäßigen Sex.
SPIEGEL ONLINE: Aber das ist doch noch keine Entschuldigung für sexualisierte Gewalt.
El Feki: Ich habe selbst sexualisierte Gewalt erlebt und möchte ganz klar sagen, dass solche Übergriffe immer unentschuldbar sind. Etwas zu verstehen, bedeutet aber auch nicht, es zu entschuldigen. Und wir können Einstellungen nun mal nur ändern, wenn wir verstehen, wie sie zustande kommen. In der arabischen Region, wo die Männer in patriarchalisch organisierten und autoritär geführten Regimen auch noch unter Druck stehen wegen der ökonomischen Situation, ist es nicht verwunderlich, dass sie die Frustration ausagieren.
SPIEGEL ONLINE: Das Sein bestimmt nach Ihrer Auffassung also das Bewusstsein.
El Feki: Wie stark das Persönliche und das Politische verschlungen sind, zeigen ja selbst die Diskussionen von Flüchtlingsgegnern über die Übergriffe an Silvester in Köln. Ich meine damit nicht die Gewalt per se. Sondern, dass die Gewalttaten verallgemeinert werden, wenn sie als Beispiel für sexuelle Praxis und Auffassungen über Sexualität in den arabischen Ländern insgesamt dargestellt werden. Was im Schlafzimmer passiert, wird dann plötzlich relevant für eine Diskussion über Einwanderungspolitik.
SPIEGEL ONLINE: Wie sollte Deutschland Flüchtlingen aus dem arabischen Raum begegnen, um sexuellen Übergriffen vorzubeugen?
El Feki: Je ausgeschlossener sich die Männer fühlen, desto wahrscheinlicher werden Übergriffe. Das Ausgeschlossensein führt ja nur die Frustration weiter, die schon in den Heimatländern erlebt wurde. Mit Bildung und Therapie kann man Einstellungen von Männern ändern - wenn sie noch jung sind und selbst dann, wenn sie mit Gewalt aufgewachsen sind.
SPIEGEL ONLINE: Wie schlägt sich Deutschland hier in Ihren Augen?
El Feki: Hier erkenne ich bisher keine klare Idee, sondern viel Übereiltes. Wenn Flüchtlinge plötzlich nicht mehr ins Schwimmbad gelassen werden und über härtere Abschiebungsregeln diskutiert wird, ist das natürlich auf gewisse Weise die unausweichliche Konsequenz von Köln. Aber solche Aktionen helfen keinem. Auch, weil klar ist: Wenn Deutschland junge Männer in ihre Länder zurückschickt, produziert es erstklassiges Rekrutierungsmaterial für extremistische Bewegungen. Die, die die sich hier abgelehnt fühlen, werden nicht einfach friedlich heimkehren.
Das Interview mit Shereen El Feki ist der erste Teil einer Gesprächsreihe von SPIEGEL ONLINE, in der Perspektiven auf Islam und Sexualität beleuchtet werden.