S.P.O.N. - Fragen Sie Frau Sibylle Die Lüge von der großen Freiheit

Wir können YouTube-Hits landen, Blogs schreiben und über soziale Netzwerke mit der ganzen Welt reden: Kreativität und Kommunikation sind im Internet grenzenlos. Scheinbar. Denn mit Freiheit hat all das wenig zu tun. Dafür aber viel mit der Abhängigkeit von Konzernen.

"Die Menschen machen heute lieber alles selber", sagte ein kluger Mensch neulich zu mir. Sage wiederum ich, um mich öffentlich darüber zu freuen, dass Menschen mit mir reden. Immer noch. Da reden immer noch Leute mit mir! Verrückt.

"Früher sah man gerne Leuten zu, die etwas konnten. Singen zum Beispiel. Heute kann jeder einen Online-Bestseller landen, mit einem YouTube-Song oder -Film berühmt werden. Da mag doch keiner mehr etwas bezahlen, um etwas zu sehen, was man ja auch selber kann. Irgendwie." Sagte der kluge Mensch. Und jetzt, da ich seine Worte aufschreibe, klinge ich wie Opa, wenn er vom Krieg erzählt.

Heute ist alles schlecht, höre ich mich mit altersbrüchiger Stimme krähen, ich will den Kaiser zurück. Den Kanon, den Reich-Ranicki, die Kulturbehörde, die uns sagt, was gut und schlecht ist, etwas, das unser Leben in überschaubare Haufen teilt.

Mein jugendliches Ich kämpft gegen das Kaisersehnsüchtige und sagt: Es ist gut, dass man heute alles selber machen kann. Kunst schaffen und Häuser bauen, operieren und Flugzeuge fliegen tun manche ja auch ohne Ausbildung. Dass jeder Filme und Bücher auf Plattformen von Großkonzernen unterbringen kann, ist doch phantastisch. Und lenkt wunderbar davon ab, dass wir eigentlich gar nichts mehr können. Also nichts beeinflussen, außer dem kleinen Umfeld, in dem wir wohnen.

Wer weiß, wie ein PC funktioniert?

Und auch da rollen bald schon die Bagger an. Die Möglichkeiten, elegant zu überleben, sind rar geworden, die zehn Prozent, denen die Welt gehört, mächtiger, und der Rest kann sich beruhigen mit ihren Apple-Geräten, von denen wir abhängig sind. Keiner weiß doch mehr, wie ein PC funktioniert, unsere tollen Geräte, die alle drei Jahre schlappmachen und durch ein neues tolles Gerät ausgetauscht werden. Auf das uns Google hingewiesen hat, nachdem uns Google Denken gelehrt hat, Filmehochladen und Zu-Castingshows-Gehen, um die zehn Prozent zu stärken und zu füttern.

Selbst wenn uns heute scheinbar alle Möglichkeiten der Kreativität offenstehen, wenn wir über soziale Netzwerke fachsimpeln, uns eine imaginäre Brille zurechtrücken, weil wir unsere eigenen Online-Zeitungen, Blogs, und Crowdfundingsite betreiben können, weil wir wissen, wie ein Mac funktioniert, so bedeutet das doch letztlich nichts. Oder wenig. Auf jeden Fall keine Freiheit, sondern die immer stärkere Abhängigkeit von Computerherstellern und Internetprovidern, von Dienstanbietern.

Ein Universum unbegreifbarer Möglichkeiten

Fast hundert Prozent derer, die mit ihren Computern reden und ständig online sind, wissen vielleicht um ein Prozent der Möglichkeiten des Internets. Begeistert habe ich ein Interview mit Stephan Urbach  gelesen, der in Räumen des Internets unterwegs ist, von denen die meisten nicht einmal ein Raunen gehört haben. Das ist eine Welt, die nicht endet, ein Universum der Möglichkeiten, die wir alle nicht begreifen.

Wir, die wir im Internet keine Zensur wollen, außerhalb jedoch einen Staat, der uns schützt. Ein Tagebuch in Wordpress zu veröffentlichen, einen Film hochzuladen, ist in Ordnung. Aber eben nicht mehr. Oder weniger. Es schafft vielleicht Ablenkung, Unterhaltung, schöne Momente. Eine scheinbare Selbstbestimmung, bevor man sich wieder in den Dienst anderer stellt, bevor man sich wieder ratlos der Welt zuwendet, nicht darüber nachdenkend, wer denn unsere Musik hören, unsere Bücher lesen und Filme ansehen soll. Wenn jeder seinen eigenen Kram herstellt und danach doch arbeiten muss, um ein Überleben in einer Welt zu sichern, die wir weniger verstehen, als es früher schien.

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