Sibylle Berg

Soziales Engagement Warum nicht mal freundlich sein?

Es schadet sicher nicht, im Netz alles besser zu wissen und sich regelmäßig zu empören. Aber mal ehrlich: Ab und zu in die echte Welt hinauszugehen und anderen zu helfen, macht einfach glücklicher.
Zelte von Obdachlosen in Berlin am Spreebogen

Zelte von Obdachlosen in Berlin am Spreebogen

Foto: Christophe Gateau/ dpa

Überlegen Sie sich auch mitunter, welche Persönlichkeitsstruktur ausgefuchste Algorithmen aus ihren Social-Media-Beiträgen und Ihren Leserkommentaren, Ihren Suchmaschinenverläufen und Kreditkartenzahlungen von Ihnen erstellen? Sähen Sie diese Person vor sich, was würden Sie als Werbetreibender oder Geheimdienstmitarbeiter mit sich anfangen? Wären Sie sich sympathisch? Bei mir weiß ich das nicht so genau.

Wie fast alle im Netz scheine ich im Alleinbesitz der Wahrheit, ich scheiße es mit Tierbildern und unglaublich tiefen Gedanken zu, ich empöre mich, was so ungefähr das Dämlichste ist, was man mit seiner Zeit anfangen kann. Auf irgendeiner Plattform irgendeine Empörung über irgendwelche Missstände abzulassen, ändert nichts. Außer, dass ich wieder ein paar Daten mehr abgeliefert habe, die ein lückenloses Profil von mir ergeben, falls irgendwer mal Interesse daran bekunden sollte.

Das denke ich alles, während ich mich zur Abwechslung einmal nicht über irgendeinen Menschen lustig mache oder aufrege, sondern jemanden liebe. Einen Reverend in einer Kirche, die in einem ehemaligen Lagerhaus in Tottenham befindlich ist.

Angst, zu denen da unten zu gehören

England, meine Güte. Dort haben auch alle keine Ahnung. Wie wir. Wie überall. Alles ist schief, arm und reich, ein Drittel der Bevölkerung überflüssig, im Sinne der Kaufkraft. Nicht zu verwenden, sitzen sie in der Sozialwohnung, und wenn sie die nicht haben, auf der Straße. Die sind voll, voller Menschen, die kein System benötigt. Außer irgendwelche Hilfsorganisationen, die sehr gut von Spenden leben, die die Bedürftigen nie erreichen.

Privatisierung - ein Zauberwort für ungebremsten Wahnsinn. Die Menschen hetzen an denen vorbei, die eine Etage weiter unten kauern, wie in den meisten Großstädten der Welt. Die da oben haben Angst, zu denen da unten zu gehören, zu den Erloschenen, Halbwahnsinnigen, die verloren haben, was die Meisten unter Menschsein verstehen. Irgendwas mit Würde und Selbstbestimmung.

Der Reverend, den ich liebe, hat erst einen Obdachlosen in seine Kirche geholt, der hat dann seine Freunde geholt, für eine Nacht in der Woche, dann für zwei, jetzt schlafen dort täglich ca. fünfzig Menschen im Andachtsraum auf Matratzen. 750 seit 2009 .

Immer mehr Menschen regen sich nicht auf

Reverend Alex Gyasi baute als Erstes eine Toilette zu einer Dusche um und sah, woran die meisten nie denken: Was Körperpflege aus jemandem macht, der sie vorher nicht haben konnte. Er ließ Kranke genesen, er fand heraus, dass es einfache Dinge sind, die den Menschen ihre Würde zurückgaben. Kochen, Musik machen, mit Schülern reden, Sport treiben und eine Adresse haben.

Mit einer Adresse kann man zu einem Arzt, mit einer Adresse kann man sich Papiere besorgen, mit einem gewaschenen Körper, der Papiere hat, kann man eventuell einen Job finden, und andere reden wieder mit einem, satt eilig vorbeizulaufen. Aus irgendwem am Straßenrand wird wieder ein Mensch mit Träumen und Fähigkeiten.

Jedes Leben, das der Reverend ohne jede finanzielle Unterstützung im Alleingang mit ehrenamtlichen Schülern rettet, rettet Familien, spart dem Gesundheitssystem Kosten. Denn oft werden Obdachlose in Spitäler eingeliefert, zusammengeflickt und wieder auf die Straße entlassen, bis sie wieder eingeliefert werden. Bis sie irgendwann nicht mehr eingeliefert werden, sondern starr am Straßenrand liegen.

Immer mehr Eigeninitiativen füllen in UK die Lücken, die der Staat wegspart. Immer mehr Menschen wie Reverend Alex regen sich nicht auf, sondern handeln. Ob es dazu einen Gott braucht oder nicht, ist relativ egal. Er schadet nicht.

Es schadet auch nicht, im Netz alles besser zu wissen, zu wissen wie es gehen könnte mit der Ungerechtigkeit auf der Welt. Aber ab und zu mal etwas tun, was anderen hilft, in dieser dämlichen Zeit, macht glücklicher.

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