Sprühkünstler Heiko Zahlmann Graffiti auf den Betonkopf stellen
Noch steht das Baugerüst. Hinter hohen Gittern und rot-weißen Banden ragen Steinquader aus dem Pflaster auf. Ineinander geschoben, aufeinander gestapelt, mal gräulich-weiß, mal dunkelgrau, dann fast schwarz. Eine Betonskulptur, mitten auf dem Hamburger Karolinenplatz. "Heiko Zahlmann, 2008", ist auf einem der Sockelsteine zu lesen.
Der Künstler muss draußen bleiben - vorerst. "Keiner da?", fragt Zahlmann und wirft einen Blick über das abgesperrte Areal. Es ist zehn Uhr morgens.
Seit drei Tagen überwacht der 35-Jährige die Aufbauarbeiten auf dem Karolinenplatz. Zwischen Gnadenkirche, Ladenzeilen und Schnellstraße entsteht "20357" , das neue Projekt des Graffiti-Künstlers. 100 Tonnen Beton hat Zahlmann für die begehbare Skulptur verwendet, eine Auftragsarbeit der Stadt Hamburg. Anderthalb Jahre Arbeit stecken in dem Projekt.
Noch herrscht auf der Baustelle Ruhe. Keiner da. Zahlmann bleibt nur der Blick durch die Gitterzäune.
"20357" hat Aufsehen erregt, Zeitungen und Fernsehen waren schon da, Zahlmann musste in den letzten Tagen viel reden über Kunst, Kommerz und die Graffiti-Szene im Allgemeinen. Erwartet hätte er das nicht, sagt der 35-Jährige.
Kompromisslose Kunst
Dabei ist das Aufsehen verständlich. "20357" scheint ungewöhnlich für den Künstler, der vor allem durch schrill-bunte Graffitiarbeiten bekannt wurde.
Zahlmann sprüht seit 20 Jahren. 2001 gestaltete der gebürtige Hamburger die 2.000 Quadratmeter großen Docks von Blohm & Voss im Hamburger Hafen. 1999 schaffte er es mit einem Wandbild an einem Kirchturm in Hamburg Lohbrügge ins "Guinness-Buch der Rekorde" für das höchste Graffiti - 38 Meter.
Und jetzt? "20357" verbindet auf den ersten Blick nichts mit den bunt-grellen Wandbildern, den gesprühten Buchstaben- und Zahlenkombinationen, wie man sie in jeder Stadt auf Zügen, Häuserwänden und in U-Bahn-Unterführungen findet.
Der Betrachter muss sich schon auf die Zehenspitzen stellen, oder gleich auf die Skulptur klettern, um zu erkennen, dass es sich bei "20357" um eben jene Zahlenkombination handelt - die Postleitzahl des Viertels. "Ein für die Graffiti-Szene typisches Motiv, die Postleitzahl als verbindendes Element", sagt Zahlmann.
"20357" ist wie Graffiti ohne Graffiti. "Es zeigt meine Entwicklung", sagt der Hamburger. Vom klassischen Sprühen, über die Malerei bis hin zu Arbeiten mit Beton. Der Künstler dekonstruiert Graffiti-Kunst, reduziert sie auf ihre Grundelemente. Die Skulptur ist der vorläufige Höhepunkt einer kompromisslosen Bildsprache. Übrig bleibt das Arbeitsmaterial: Beton.
Zahlmanns Website zeigt die Ergebnisse dieses radikalen Minimalismus: Acrylarbeiten auf Holz, darauf geschwungene Linien. Wie gekratzt wirkt das, eine Anlehnung sagt Zahlmann, an die italienische Grundbedeutung des Wortes Graffiti. Daneben Betonplatten, die nur mit einem Strich besprüht sind und die die Sprüher-typische "Bewegung aus dem Handgelenk" nur noch erahnen lassen. 2005 modellierte er erstmals eine ganze Wand als Relief, die Inspiration dazu lieferte ihm sein eigener dreidimensionaler Sprühstil. 2007 präsentierte er seine Betonbilder in Zürich bei "de Pury & Luxembourg".
Das Hamburger Karolinenviertel ist Zahlmanns "Open-Air"-Galerie, hier finden sich die Vorläufer seiner Beton-Arbeiten. Auf zahlreichen Häuserwänden rund um den Platz hat sich der Künstler als "Rocket" verewigt. Er spielt mit dem Namen, auf der einen Wand scheinen die Buchstaben durcheinander zu purzeln zum "Tanz der Buchstaben", dann wieder setzt er auf geometrische Formen, dreidimensionale Bilder, die einen Tiefeneindruck erzeugen. Bunt und poppig wirkt das.
Keine Angst vor Konfrontation
"Ich bin mit der Zeit immer kompromissloser geworden", sagt Zahlmann, der mit seinen ungewöhnlichen Graffiti-Arbeiten Sehgewohnheiten brechen will. "Ich hatte einfach das Bedürfnis, mein eigenes Ding durchzuziehen." Kompromisslos eben.
Dass das eine Haltung ist, die nicht für jeden praktikabel ist, weiß Zahlmann. Er hat Verständnis für professionelle Sprüherkollegen, die ihre Arbeiten großen Unternehmen für Imagekampagnen zur Verfügung stellen - und sich so dem Vorwurf aussetzen, die Graffiti-Kultur durch Kommerzialisierung zu gefährden. "Das muss jeder mit sich selbst ausmachen", sagt Zahlmann.
Auf die Frage, wo bei Graffiti die Kunst beginnt, reagiert der Hamburger Künstler vorsichtig. Graffiti ist nicht gleich Kunst, sagt Zahlmann, "manche wollen nur zerstören". Entscheidend sei für ihn, ob die "Arbeit etwas Innovatives hat". Wo dann gesprüht wird, sei nebensächlich.
Die Szene müsse im Fluss bleiben, sagt Zahlmann. 2000, 2001 und 2002 luden er und seine Atelierpartner Mirko Reisser und Gerrit Peters deshalb internationale Graffiti-Kollegen zur Ausstellung "Urban Discipline". Zahlmann traf dort auf Szenegrößen wie Banksy, dessen Schablonengraffiti inzwischen in den Galerien Rekordpreise erzielen. "Der Austausch in der Szene ist groß - und inspirierend."
Am 31. Oktober wird "20357" eingeweiht, danach will Zahlmann seine neuen Werke vorstellen, sein "Graffiti 2.0", wie er sagt.
Betonwürfel werden dann dabei sein, auf denen Buchstaben nur noch als Fragmente zu erkennen sind. "Das will vielleicht keiner sehen, aber ich mache es trotzdem", sagt Zahlmann.
Schon "20357" bietet viel Reaktionsfläche - nicht nur für Kritiker, sondern auch für Skater und für andere Sprüher. Zahlmann hat sich vorher informiert, hat über eine Anti-Graffiti-Beschichtung und Metallnoppen an den Kanten der Quader nachgedacht. Und dann doch alles verworfen. "Ich hatte immer den Traum etwas so Großes zu machen", sagt Zahlmann und wirft einen Blick über das 60 Quadratmeter große Areal.
Es scheint, als müsse er nun doch Kompromisse machen. Graffiti auf seinem Kunstwerk? "Damit muss man leben."