Stadelmaier-Skandal Kulturkampf im Theater
Bis Ende vergangener Woche dachten wir ja, der Kampf um die Freiheit der Journalistenmenschen werde wirklich dramatisch nur jenseits der deutschen Grenzen ausgetragen. In Kopenhagen, Teheran, Tripolis oder Beirut zum Beispiel, wo um die in einer dänischen Zeitung erschienenen Karikaturen des Propheten M. gestritten wird; in den USA, wo fast alle wichtigen Medien die Bilder des alltäglichen Mordens im Irak bis heute systematisch unterdrücken. Seit der Lektüre der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ("FAZ") vom Samstag aber wissen wir: Die wirklich aufregendsten und unsere heile Wertewelt erschütternden Fights um das Recht auf freie Information werden in deutschen Theatersälen ausgetragen.
Einen "Skandal" brandmarkte der Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier in der Samstags-"FAZ". Er war, wie auch SPIEGEL ONLINE am Freitag meldete, in Frankfurt während der Premierenvorstellung von Eugene Ionescos "Das große Massakerspiel" von einem bulligen Schauspieler vorübergehend seines Notizblocks beraubt und beleidigt worden und hatte unter Verwünschungen des Darstellers ("Hau ab, du Arsch! Verpiss dich!") den Saal verlassen. Man habe "auf eklatante Weise einem Kritiker die Freiheit genommen, seinem Beruf nachzugehen", schreibt Stadelmaier. "Wer Kritiker attackiert und beleidigt und anpöbelt, attackiert und beleidigt und bepöbelt das Publikum: Die Öffentlichkeit des Theaters." Und ein paar Absätze weiter kann man lesen: "Das hat es im Theater noch nie gegeben. Nie auch habe ich mich in meinem dreißigjährigen Kritiker-Leben so beschmutzt, erniedrigt, beleidigt gefühlt - und so abgrundtief traurig übers Theater."
Klar muss die Angelegenheit, die Stadelmaier als "Attacke auf meinen Körper und meine Freiheit" wertete, jeden gesitteten Menschen (und nicht nur Theaterkritiker) empören. Da spielt es keine Rolle, dass der Fall keinesfalls einzigartig ist - in der Literatur werden Kritiker seit jeher als Quittung für ihr Wirken aufs Böseste malträtiert (nicht nur bei Martin Walser); jeder Mafiafilm-Liebhaber weiß, dass Mafiabosse den Kritikern, welche die Auftritte ihrer unbegabten Geliebten verreißen, auf der Stelle die Kniescheiben durchlöchern oder die Schreibhand zerschmettern lassen; und auch in der Realität erinnern wir uns an mindestens ein halbes Dutzend Fälle, in denen Theaterkritiker zum Mitspielen genötigt, auf die Bühne geladen, mit Papierfliegern beworfen, mit Mehl bestäubt oder sonstwie dem Lachen des Publikums preisgegeben wurden. Zudem kennen wir einen tollen Theaterrezensenten, der für einen saftigen Verriss vom Schauspieler Josef Bierbichler öffentlich geohrfeigt wurde und dem Täter dies auf der Stelle verzieh.
Egal, wir fechten nun alle solidarisch für Stadelmaier - gerade weil der "FAZ"-Mann nicht nur brillant und sprachmächtig, sondern auch der böseste unter Deutschlands Theaterkritikern ist. Keiner vernichtet so genüsslich wie er; keiner beleidigt so beherzt und schonungslos Regisseure ("Verhunzer", "Stückedurchturner", "ein Fall für den Theaterpsychiater") und Dramatiker ("Lebkuchenbäcker") als Wirr- und Hohlköpfe, keiner empfiehlt Theatermachern so gerne den Berufswechsel und keiner ruft so heiter entschlossen nach Justiz und Obrigkeit, damit sie per Einstweiliger Verfügung (etwa gegen wilde Stückveränderungen) oder Subventionsstreichung den Umtrieben des zeitgenössischen deutschen Theaters ein Ende bereiten.
Stadelmaier knüpft mit seinen Regisseurs-Beschimpfungen und Tiraden an das Erbe der großen Theaterkritiker Alfred Kerr und Herbert Ihering an; seine Gegner sagen, eben aus Kerrs und Iherings großer Zeit früh im vergangenen Jahrhundert stamme auch Stadelmaiers Theatergeschmack. Allerdings ist die Frage, ob der Kritiker Stadelmaier Recht hat oder nicht, bei der Lektüre seiner Texte in der Regel absolut unwichtig. Weil diese Texte so gebildet und rasant und elegant sind, weil sie mit solch lässigem Schwung die Pointen servieren und durch eine humoristische Leichtigkeit verzaubern, weil ihnen nichts und niemand heilig ist und man als Zeitungsleser wahrhaft süchtig werden kann nach ihnen.
Genau das ist aber das Erschütterndste an der Frankfurter Affäre. Der große Kritiker hat, so bewies seine Anklageschrift in der Samstags-"FAZ", seinen berühmten Humor plötzlich ganz und gar verloren. Kein ironischer Schlenker, kein Scherzwort, keine selbstkritische Volte milderten seine Empörung und seinen Zorn; ja nicht mal die zerknirschte Entschuldigung und sofortige Entlassung des Schauspielers, der ihn attackiert hat, scheinen ihn zu besänftigen. Das System, das große Ganze zumindest des Frankfurter Schauspiels, sei schuld, behauptet Stadelmaier; "aller Ekel, alle Provokationen, alles Ordinäre" sei auf der Bühne ausgereizt, da sei "das Aus-der-Rolle-fallen" des Schauspielers gegenüber dem Kritiker der allerletzte, niederträchtigste Tabubruch.
Zur Erinnerung: Der Darsteller, der nun seinen Job los ist, hatte im Rahmen der Aufführung die Aufgabe, das Publikum ins Spiel einzubeziehen. Der Mann hat den Kritiker keineswegs geschlagen, er hat ihm roh sein Werkzeug entrissen (und es ihm dann zurückgegeben) und ihm verbale Gewalt angetan. Das ist eine Entgleisung - aber bedroht die wirklich die Pressefreiheit? Oder ist die Erregung des Untergangspropheten Stadelmaier vor allem der Beweis, dass auch Deutschlands bedeutendster Theaterkritiker eine Begabung fürs ganz große Drama hat?
"Man hat oft gesagt, mit Gewalt lasse sich nichts beweisen. Das hängt jedoch davon ab, was man beweisen will", hat Oscar Wilde geschrieben. Der Eklat beim Frankfurter "Massakerspiel" beweist eher nicht, wie schlecht es um die Arbeitsmöglichkeiten kritischer Berichterstatter in Deutschland steht. Sondern er belegt, dass in unserem Theater derzeit wirklich die Hölle los ist und die Nerven blank liegen. So wird aus schlechtem Schauspielerbenehmen und überraschender Kritiker-Dünnhäutigkeit ruckzuck ein monströser Skandal.