
Stadtentwicklung Lob der Ramschmeile
Eines Tages stand Inés aus Santiago de Cuba vor der Tür unserer Zweier-WG. Mein Mitbewohner hatte sie bei einer seiner zahlreichen Radtouren über die Karibikinsel kennengelernt. Inés, 32 Jahre alt, konnte ein wenig Deutsch, weil sie in den Achtzigern im Rahmen der sozialistischen Völkerfreundschaft in der Kleinstadt Schmalkalden in Thüringen gearbeitet hatte. An diese goldene Zeit fühlte sie sich erinnert, als sie auf Kuba meinen Mitbewohner traf. So gerne würde sie ihre alten Freunde in der ehemaligen DDR wiedersehen!
Um die Reise bezahlen zu können, hatte sie sich 700 Dollar von einem Onkel geliehen, der den Keller seines Hauses als informelle Tankstelle nutzte. Das Geld hatte allerdings nur für den Flug gereicht, weshalb Inés bei ihrer Ankunft gerade mal zehn Euro dabei hatte. Nicht genug Bares, um die Reise nach Schmalkalden anzutreten. Ohnehin stand ihr der Sinn keineswegs mehr nach einem Besuch in der beschaulichen Fachwerkstadt am Rande des thüringischen Waldes. Nein, Inés hatte größere Pläne. Hamburg sollte ihr Profit Center werden. Zwar erklärten wir ihr wortreich, dass bezahlte Arbeit im Kapitalismus ein knappes Gut ist, aber das war für Inés nur graue Theorie. Schließlich war sie nach Deutschland gekommen, um zu "triumphieren", wie sie sagte.
Wir schenkten Inés zwei Umzugskisten mit alten Schallplatten und ein paar Säcke abgelegter Klamotten aus den Speichern befreundeter Wohngemeinschaften. Samstags und sonntags fuhren wir frühmorgens mit der Ware zu einem der Flohmärkte im Hamburger Stadtgebiet. Die seichten Chachacha-LPs gingen zu guten Preisen über den Tapeziertisch. Die Platten-Spürnasen glaubten, es handele sich um gesuchte Sammlerstücke, von einer Kubanerin ahnungslos auf den deutschen Markt geworfen. Und beim Kleidungsverkauf entpuppte sich Inés als Beratungstalent. Unermüdlich nutzte sie die ihr zur Verfügung stehenden hundert Worte Deutsch, damit die Kopftuchträgerinnen ihren Stand nicht ohne ein passendes Teil verließen.
Die Standortvorteile der Resterampe
Mit einer Gruppe von Ecuadorianern entwickelte sich ein reger Austausch. Sie lebten ohne Aufenthaltserlaubnis in Deutschland und verhielten sich dementsprechend vorsichtig und verschüchtert. Inés mit ihrer resoluten kubanischen Art mauserte sich zum beliebten Alphatier der Flohmarkt-Connection. Die Ecuadorianer gaben ihr wertvolle Tipps, wie man sich möglichst preisgünstig durch die Stadt schlägt.
Im Kapitalismus, pflegte Inés zu sagen, gibt es zwar sehr teure Geschäfte, aber eben auch sehr billige. Die astronomischen Preise in den Flagship-Stores der Hamburger Innenstadt riefen bei ihr höchstens Belustigung hervor: Wer wäre wohl so umnachtet, sich Prada-Turnschuhe für mehrere hundert Euro zu kaufen, wenn es ein paar S-Bahn-Haltestellen weiter modisch designte Exemplare für ein Zehntel des Preises gibt? Ihren lebensweltlichen Mittelpunkt fand sie in der Großen Bergstraße im Hamburger Stadtteil Altona. Hier gab es das billigste Internet-Café, die günstigsten Hähnchenbeine und vor allem jede Menge preiswerte Wühltisch-Ware. Für den westeuropäischen Mittelständler billiger Tand, aus der Perspektive der kubanischen Mangelwirtschaft gesuchter Stoff.
Sie investierte die Einnahmen aus den Flohmarktverkäufen in modische Slips, Sonnenbrillen, Hot Pants und T-Shirts zu Preisen ab 1 Euro. In Santiago de Cuba, versicherte sie, könne man diese Ware für ein Vielfaches losschlagen. Und auch jenseits der Schnäppchenpreise hatte die Große Bergstraße für sie eine Menge Standortvorteile. Der Callshop, der Gemüsetürke und die Stoffstände auf dem Wochenmarkt fungierten wie ein Jobcenter, was ihr den ein oder anderen Putzjob einbrachte.
Logik der Abwärtsspirale
Hätte man Inés in eine Runde von Stadtplanern und Lokalpolitikern gesetzt, ihre Liebe zur Großen Bergstraße wäre auf Unverständnis gestoßen. Denn aus offizieller politischer Sicht befindet sich die älteste Fußgängerzone der Stadt in einer Abwärtsspirale. Ein von der Stadtentwicklungsbehörde beauftragtes Forschungsinstitut lässt kaum ein gutes Haar an ihr. Hier fehlt es an "Aufenthaltsqualität", dort kommen den Gutachtern Bereiche "unbelebt und ungastlich" vor, und so geht es in einem fort. Insgesamt ergibt die Analyse, "dass das Untersuchungsgebiet derzeit nicht mehr die Funktion eines Bezirkszentrums sowie eines wichtigen Zentrums für das öffentliche, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben einnimmt".
Wer an einem sonnigen Samstag in der geschmähten Fußgängerzone flaniert, muss sich fragen, wo sich die Gutachter herumgetrieben haben. Die Bänke der Bäckereikette sind voll besetzt, der Wochenmarkt ist gut frequentiert und in den Sonderangeboten vor Woolworth wird eifrig herumgewühlt. Vor der Eisdiele Filippi sitzen Hausfrauen beim Eiskaffee, türkische Kids spielen Fußball, und vor dem Netto-Supermarkt singen ein paar Schäferhund-Punks fröhliche Lieder.
Fußgängerzonen wie diese finden sich überall in der Republik. Es sind typische Stadtteil-Einkaufsstraßen, in denen der Lack von den Bänken bröckelt und auch mal eine Bierflasche im Blumenkübel landet. Wieso ist das "öffentliche, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben" hier funktionsgestört? Was ist so schwer hinnehmbar daran, dass es im innerstädtischen Bereich eine etwas grau gewordene Sonderposten-Einkaufsstraße gibt, in der sich Hartz-IV-Empfänger, Rentner oder Kopftuchträgerinnen noch Butterkuchen mit Kaffee satt leisten können?
Nicht die Armut, die Armen sind Stadtentwicklern das Problem
Warum die Stadtplaner dem Gebiet "Anzeichen eines problematischen Stadtquartiers" attestieren, verschweigen sie nicht: "Insgesamt liegt im Stadtteil eine verminderte Kaufkraft vor." Oder anders gesagt: Es kann noch so viel auf der Straße los sein - wenn die Passanten keine Umsatzbringer sind, liegt eine Störung vor.
Die Problemviertel-Rhetorik ist seit Jahren die Begleitmusik für die Erschaffung von innerstädtischen Shopping-Welten - eine der zentralen Angriffspunkte des Immobilienmarktes. Seit 1990 haben sich die Verkaufsflächen in den Stadtzentren nahezu verdoppelt. Große Konsortien errichten überall in der Republik riesige Shopping-Galerien und Einkaufs-Arkaden. Wettergeschützt und vom Bodenbelag bis zur Hintergrundmusik vollständig durchgestaltet, konkurrieren sie als überdachte Oasen mit einem Stadtraum, den die öffentliche Hand nicht mehr zu gestalten bereit oder in der Lage ist. Während die Shopping-Center von der grünen Wiese in die Innenstädte wandern, verfallen öffentliche Plätze und Fußgängerzonen - zumal an den Rändern der Städte. Weil sie mit den Malls nicht konkurrieren können, suchen Grundeigentümer und Einzelhändler ihr Heil in der Verwandlung ihrer Einkaufsstraßen in "Business Improvement Districts" (BID).
"Malls without walls" nennt man die BIDs im anglosächsischen Raum zu Recht, denn sie übertragen das Mall-Modell auf die Straße. Einkaufsstraßen bekommen ein zentrales Management, private Security-Dienste und Putzkolonnen sorgen für Sicherheit und Sauberkeit, eine einheitliche Straßenmöblierung schafft "Aufenthaltsqualität" und der "Branchenmix" folgt einem "Leitbild", sprich: Billiganbieter und Resterampen sollen verschwinden. Draußen sollen damit auch alle die bleiben, die zum Shopping-Geschehen nichts beizutragen haben: Obdachlose, Bettler, Skateboardfahrer, Punks oder einfach Jugendliche, die in der Fußgängerzone abhängen.
Die Nischen gehören zur Kultur des Urbanen
Auch unsere kubanische Bekannte Inés dürfte nicht zur Zielgruppe eines Business Improvement Districts gehören. Zwar verhielt sie sich während ihres gesamten Hamburg-Aufenthaltes durch und durch geschäftssinnig. Aber ihre Vorliebe galt eben Billigtextilien und Made-in-China-Modeschmuck - also den Insignien der kaufkraftmäßigen Deklassierung einer städtischen Einkaufszone.
Als sie uns nach drei Monaten verließ, trug sie sieben Röcke und fünf Sweatshirts übereinander und zog zwei prall gefüllte Koffer hinter sich her, deren Inhalt sie samt und sonders aus den Resterampen und 1-Euro-Shops der Großen Bergstraße bezogen hatte. Auf dem Weg zum Flughafen fühlte sie sich wie eine Königin. Sie hatte es geschafft. Das vom Onkel geliehene Geld war knapp zusammengekommen. Und mit dem Verkauf der Discount-Ware würde sie auf Kuba einen guten Schnitt machen. Genug, um ihrer Familie einen Farbfernseher zu finanzieren.
Ihr Hamburg bestand nicht aus den sauber gefegten Caffè-Latte-Oasen mit Alster- oder Elbblick, sondern aus den informellen Zwischenzonen, in denen sich auch Stadtbewohner ohne sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz durchschlagen können. Diese Nischen gehören seit jeher zur städtischen Realität - in gewisser Weise begründen sie sogar die Kultur des Urbanen: dass Menschen jedweder Herkunft und Anschauung in die Stadt eintauchen und in ihr untertauchen können, dass sie als "Fremde" Teil der Stadt werden, dass die Stadt ihre Unterschiedlichkeit produktiv macht. Von Georg Simmel, der 1903 die moderne Stadtsoziologie begründet, bis zu dem französischen Philosophen Henri Lefèbvre, der 1968 den Begriff "Recht auf Stadt" prägt: Alle beziehen sich auf diese verdichtete Unterschiedlichkeit als Wesensmerkmal des Städtischen.
Gentrifizierung als Generallinie
Die Megacitys des globalen Südens mit ihren Gated Communities für die oberen Schichten und den informellen Barrios, Favelas, Townships, Slums und Shantytowns, in denen die arme Mehrheit lebt, die US-Großstädte mit ihren weißen Mittelschichts-Vorstädten und ethnisch ghettoisierten Innenstadtgebieten: Solche Formen der sozialen Segregation gelten im wohlfahrtsstaatlichen Europa als undenkbar.
Dennoch ist es heute längst ein Gemeinplatz, dass sich in den Großsiedlungen an den Stadträndern "räumlich eingegrenzte Milieus" von "Armen, Ausländern und Arbeitslosen" gebildet haben, wie es z.B. in einem Hamburger Senatspapier heißt. Die Meldungen, Reportagen und Dossiers über das "abgehängte Prekariat" und die Tragödien verwahrloster Kinder häufen sich. Doch so deutlich auch der Rückzug des Wohlfahrtsstaats und die räumliche Marginalisierung als zentrale Aspekte der sozialen Katastrophen erkannt sind, so wenig ist man bereit, die fälligen Konsequenzen zu ziehen. Nicht Maßnahmen zur Verbesserung der Lebens- und Wohnverhältnisse der Prekarisierten sind angezeigt, sondern Maßnahmen zur Gentrifizierung ihrer Viertel. Statt die Teile der Stadt wieder zugänglicher zu machen, in denen es sich gut leben lässt - durch sozialen Wohnungsbau und Mietbegrenzungsmaßnahmen-, arbeitet man daran, die "schlechten" Stadtteile aufzuwerten. Die Diagnose lautet, dass die Gebiete, in denen sich die Armen, die Bildungsfernen und Prekarisierten ballen, nicht marktfähig genug sind.
So wird Gentrifizierung zur Generallinie: als Erfolgsstory, die man überall dort zu implementieren versucht, wo sich soziale Problemzonen gebildet haben. Nicht die Armut, die Armen sind in dieser Logik das Problem. Denn so unschuldig die Forderung nach "Aufwertung" und "Belebung" auch daherkommen mag - de facto ist sie das Bekenntnis der öffentlichen Hand, die Initiative dem Immobilienmarkt zu überlassen. Und dessen Gesetzen folgend sind Investitionen nur erfolgversprechend, wenn sich die Insignien sozialer Randständigkeit zurückdrängen lassen. Die Eckkneipen mit den vergilbten Gardinen, die Callshops und die Dönerbuden, die Spielhallen und Asia-Elektronikhöker, die Billigflohmärkte und Billardhallen: Das prekäre Habitat muss verschwinden. Und mit ihm das Milieu, das es besiedelt. Zonen wie die Große Bergstraße in Hamburg-Altona müssen sich häuten, ihre informellen Bereiche abstreifen, um als möglichst lückenlos renditebringendes Portfolio wiederauferstehen zu können.