Piratenpartei Jede Meinung ist keine Meinung

Ansichten eines Nerds: Die Piratenpartei repräsentiert mich zwar perfekt, aber  meine Stimme kann ich ihr trotzdem nicht geben. Denn sie ist keine Partei, sondern eine noch weitgehend leere Hülle. Sie zu wählen bedeutet, eigentlich nicht zu wählen.
Playmobil-Schiff mit Piraten-Logo: Neue Spielregeln für die Demokratie

Playmobil-Schiff mit Piraten-Logo: Neue Spielregeln für die Demokratie

Foto: dapd

Eigentlich wäre ich der perfekte Pirat.

Ich habe keine Ahnung, wie die Finanzkrise gelöst werden könnte, bin weder Experte für die Lösung des Nahost-Konflikts noch für die Probleme des bundesdeutschen Schulsystems. Und die etablierten Parteien sind mir schon lange suspekt: Von ihren Hinterzimmer-Kungelrunden fühle ich mich ausgeschlossen, ihr Mangel an Durchlässigkeit und Bürgerbeteiligung entfremdet mich vom Politikbetrieb, von ihren Repräsentanten sehe ich mich nur selten repräsentiert.

Aber ich habe einen Internetanschluss, den ich ausgiebig nutze, um mich zu informieren, mich auszutauschen und mir alle möglichen Inhalte herunterzuladen, am liebsten sofort und kostenlos. Ich sehe zwar durchaus ein, dass Urherber von künstlerischen und anderen Werken für ihre Arbeit entlohnt werden sollten (schließlich bin ich selbst einer), aber wie das in Zukunft geschehen soll, das weiß ich nicht so genau. Eine Kulturflatrate scheint mir eine gute Idee zu sein, aber wie die im Detail funktionieren sollte, kann ich jetzt auch nicht sagen. In jedem Fall bin ich gegen Acta, gegen die Vorratsdatenspeicherung sowieso und überhaupt gegen jeglichen Eingriff in die Privatsphäre.

Eine schöne Idee, diese "Liquid Democracy"

Auch muss ich leider sagen, dass ich in meiner Jugend zu der einen oder anderen Party nicht eingeladen worden bin, weil ich nicht cool genug war; und wenn ich heute als Freizeitbeschäftigung mit großer Freude meinen Rechner auseinanderbaue, wieder zusammensetze und danach stundenlang neu konfiguriere, dann verdreht meine Frau die Augen und nennt mich "Nerd", was nicht nett gemeint ist.

Genau solche Leute wie mich vertritt die Piratenpartei, wie mir klar wurde, als ich die schöne Rede des Berliner Piraten Christopher Lauer auf Youtube  angesehen habe. Sogar seinen Humor teile ich. Der Gag mit "Kresse halten" war wirklich gut.

Trotzdem kann ich nicht Mitglied der Piratenpartei werden. Ich kann sie nicht einmal wählen.

Eigentlich ist das ja eine schöne Idee, diese "Liquid Democracy": Jeder kann seine Stimme jederzeit erheben und Entscheidungen beeinflussen. Man muss nicht mehr vier Jahre lang warten, um einen Volksvertreter abzulösen, der nach der Wahl im Parlament dann doch nicht so entscheidet, wie man sich das bei der Betrachtung seines hübschen Wahlplakats gedacht hatte. Man kann sich beteiligen, ohne an langweiligen Delegiertenversammlungen teilnehmen zu müssen, weil die Entscheidung per Internet übertragen wird. Die Idee ist noch nicht ausgereift, aber zu Ende gedacht könnte die Zukunft der Demokratie so aussehen: Ich sitze in einem Café und stimme mit meinem Smartphone per App darüber ab, ob die Bundeswehr sofort raus soll aus Afghanistan, ob die Sozialhilfe erhöht werden soll oder die Pendlerpauschale abgeschafft. Und alle anderen könnten das auch. Und am Ende wird es so gemacht, wie die Mehrheit es wünscht. Ein Parlament ist nicht mehr nötig, denn das Parlament sind wir alle.

Die Frage ist nur, ob so ein Verfahren tatsächlich die besten Ergebnisse hervorbringen würde. Man muss gar nicht erst das Extrem einer Volksabstimmung über die Todesstrafe für Kinderschänder bemühen (deren Ausgang, wenn gerade ein solcher Fall durch die Medien ginge, leicht vorhersehbar wäre), es genügt ein Blick auf die aktuellen Debatten. Man lese nur die Foren, in denen sich die zustimmenden Beiträge zum anti-israelischen Grass-Gedicht stapeln - die haben mit dem Pamphlet des Nobelpreisträgers zweierlei gemein: Besonders schön geschrieben sind sie nicht. Und sie sind Zeugnisse einer erschreckenden Ahnungslosigkeit über die tatsächliche Lage (oder schlimmer noch: deren wissentliche, böswillige Verdrehung) - denn nicht die israelische Regierung bedroht Iran mit der Auslöschung, es ist umgekehrt. Bei einer Volksabstimmung über die deutsche Solidarität mit dem Staat Israel wäre dennoch ein beschämendes Ergebnis zu befürchten.

Vox populi, vox Rindvieh

Dies ist nur ein Beispiel von vielen, bei denen gilt: Nach dem Vorspann "Man wird doch einmal sagen dürfen" wird gerne mal gefährlicher Unsinn verzapft. Leider ist die Stimme des Volkes, vox populi, oft genug nicht die Stimme Gottes, vox dei, sondern schlicht vox Rindvieh. Denn wir Bürger haben vielleicht zu jedem Thema eine Ansicht (wie ich zum Beispiel die meine zum Grass-Gedicht), doch das bedeutet nicht unbedingt, dass wir auch eine Ahnung davon haben.

Aber halt, das Konzept der "Liquid Democracy" hat für dieses Problem einen Ausweg parat: den Stimmenverleih. Wenn ich keinen Schimmer von der zu entscheidenden Thematik habe, kann ich meine Stimme zeitweise jemandem ausleihen, der sich meiner Ansicht nach besser auskennt. Allerdings muss ich selbst entscheiden, ob ich mich für kompetent halte - wozu ich aber kaum in der Lage bin, wenn ich keine Einsicht in meine eigene Inkompetenz habe. Und selbst wenn ich weiß, dass ich nichts weiß, und meine Stimme verleihe, dann ist da wieder das alte Problem: die Experten und ihre Hinterzimmer-Runden.

Noch gibt die Piratenpartei gerne zu, sich über viele Themenfelder noch keine Meinung gebildet zu haben. Das wirkt in der Anfangsphase erfrischend offen und geradezu sympathisch, doch in diesem Zustand der kindlichen Entdeckerfreude wird sie nicht lange verharren können. Je mehr Menschen sich an den internen Diskussionen der Piraten beteiligen, desto mehr werden sich diese Diskussionen ausdifferenzieren. Um viele Stimmen geliehen zu bekommen, wird man sich tief und tiefer in die Materie einarbeiten müssen, und am Ende werden sich Experten mit Experten streiten, in endlosen Threads, deren Lektüre ebenso spannend sein wird wie die der Protokolle einer Bundestagsdebatte, in der sich die Fachpolitiker der unterschiedlichen Fraktionen über einen Gesetzentwurf streiten.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Bundestags- und andere Expertendebatten können sehr spannend sein, wenn man sich für ihr Thema interessiert und die Zeit hat, sie zu verfolgen. Die Verlagerung dieser Debatten in ein "Liquid Democrazy"-System wäre allerdings qualitativ nichts Neues. Zwar könnte ich mich hier auch als Newbie  jederzeit einbringen (anders als im Bundestag), aber wohl nur, um nach meinem erfrischend basisdemokratischen Beitrag eine Armada von Roflcoptern  flattern zu hören, die zurecht eine Salve RTFM s auf mich abfeuern. Nein, die Achtung als Experte wird man sich auch in der Nerdokratie hart erarbeiten müssen, mit viel Zeitaufwand, Lektüre und Diskussionen - nicht viel anders als in herkömmlichen Parteien.

Keine Partei, sondern ein Medium

Dabei sind die Piraten eigentlich bisher keine Partei, sondern eher ein neues Medium für politische Meinungsäußerung. In ihrem jetzigen Stadium sind sie nur auf einen einzigen politischen Inhalt festzulegen: Finger weg von meinem Internet! Ihre Parlamentarier behalten sich das Recht vor, jederzeit ihre Meinung zu jedem Thema zu revidieren, wenn die interne Debatte neue Erkenntnisse hervorbringt. Sie scheinen weniger dem eigenen Gewissen verpflichtete Abgeordnete zu sein, sondern mehr ein Interface zur Übersetzung des Basiswillens in den (letztlich abzuschaffenden) parlamentarischen Betrieb.

Man kann das flexibel nennen (oder auch verfassungsfremd), ich persönlich wähle jedoch lieber Parteien, deren grundsätzliche politische Haltung mir bekannt ist. Solche Parteien haben auch den Vorteil, dass sie fähig sind Koalitionen einzugehen, also einigermaßen langfristige Verpflichtungen. Die Piratenpartei blickt mit Stolz auf ihre Ideologiefreiheit und ihre nicht vorhandene Parteigeschichte. Man kann das altmodisch finden, aber eine gewisse Verlässlichkeit und Kontinuität hat diesem Land in den vergangenen 67 Jahren nicht geschadet. Ganz im Gegenteil.

Wir befinden uns in einem Übergangsprozess. Die Demokratie wird sich durch das Internet verändern, allerdings nur in ihren Methoden, nicht in ihrem Wesen. Die etablierten Parteien wären klug, wenn sie schleunigst die methodischen Ideen der Piraten aufgreifen und integrieren würden - bevor sie rasant noch mehr Zuspruch und Mitglieder verlieren, als das sowieso schon der Fall ist. Sie sollten die Piraten überflüssig machen - oder ihnen gleich geschlossen beitreten, was auf dasselbe hinausliefe.

Noch ist die Piratenpartei eine weitgehend leere Hülle. Sie jetzt zu wählen, bedeutet, ständig die Wahl zu haben, jede Entscheidung jederzeit neu fällen zu können. Und das bedeutet letztlich, überhaupt nicht zu wählen.

Dabei wähle ich sehr gerne.

Mehr lesen über

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren