Steinmeier bei Anne Will Ende einer Dienstfahrt
So schnell kann es gehen. Am vergangenen Dienstag noch nettes Talkshow-Geplauder bei Johannes B. Kerner unter freundlicher Mitwirkung von Ehefrau Elke Büdenbender - hier war man Mensch, hier durfte er's sein -, am Abend der Europawahl aber schon ganz allein zu Haus: am Abgrund der Kanzlerkandidatur.
Frank-Walter Steinmeier versuchte am Sonntagabend in der Talkshow von Anne Will, die Contenance zu bewahren. Doch seine Schmallippigkeit verriet Ratlosigkeit angesichts eines desaströsen Ergebnisses für die SPD, das die Perspektive auf die Bundestagswahl weiter verdüstert. Daran ändern auch Hinweise auf die niedrige Wahlbeteiligung nichts.
Gewiss hatte sich der Außenminister und SPD-Kanzlerkandidat das gemütliche Beisammensein mit der ARD-Talkerin etwas anders vorgestellt. Nun aber wurde aus der seltenen Gelegenheit eines ausführlichen Zwiegesprächs zur besten Sendezeit - mit schöner Möglichkeit zur Selbstdarstellung - ein wahrer Spießrutenlauf.
Das lag weniger an den nicht immer netten Fragen von Anne Will, sondern vielmehr an der aktuellen Situation der deutschen Sozialdemokratie, die seit Monaten wie in Beton gegossen scheint. Das Bild vom 25-Prozent-Keller ist fast schon zu optimistisch. Die Wähler als unbarmherzige Zementmischer haben sich am Sonntag sogar für eine 20-Prozent-Deckelung der SPD entschieden. So fällt der aufrechte Gang noch schwerer. Optimismus ist nur noch ein fernes Pfeifen im Walde, und kein Rettungsschirm nirgends.
Jetzt werde man eben "in die Hände spucken und sich richtig reinhängen", sagte Steinmeier trotzig, aber schon Mimik und Körpersprache verrieten das Gegenteil: stille Resignation. Zuweilen schien es gar, als habe sich Steinmeier insgeheim bereits ein neues, altes Ziel gesetzt: Außenminister zu bleiben in einer Neuauflage der Großen Koalition, die alles in allem ja gar nicht so schlecht funktioniert. Mehr ist wohl nicht drin.
Denn das, was, erst recht seit Sonntagabend, alle sehen können, wenn sie sich nichts vormachen wollen, weiß er selbst am besten: Kanzler wird er kaum mehr werden können im Wettstreit mit Angela Merkel.
Ihm fehlt der unbedingte Wille zur Macht, ihm fehlen Charisma und zupackende Rhetorik - und damit die Fähigkeit, den Leuten zu erklären, was er denn so ganz anders machen würde als die derzeitige Kanzlerin. Vor allem aber: Ihm, und nicht nur ihm, fehlt die unverwechselbare, zeitgemäße sozialdemokratische Idee, das Aufbruchssignal in Zeiten der Krise. Mindestlohn, Opel-Hilfe, Frieden und Gerechtigkeit auf Erden?
Stagnation auf Sozialdemokratisch
"Ein solches Wahlergebnis kann man nicht einfach wegstecken", gibt Steinmeier zu. Ah ja. Manchmal möchte man den Mann aus Brakelsiek einfach nur schütteln und ihm im hessischen Idiom der Kabarett-Truppe "Badesalz" zurufen: "Hey Mann, Alder, mach disch mal lockä!" Er müsste ja nicht gleich Lambada tanzen. Nur ein bisschen echtes Temperament und Siegeswillen zeigen.
Aber nein, die Hände liegen bei Steinmeier schön überkreuz auf dem Schoß. Bloß keine Aufregung. Man will sich ja keine Blöße geben. Doch genau so sendet der Kanzlerkandidat das falsche Signal nach draußen: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Stagnation auf Sozialdemokratisch. Immer schön weiter im alten Trott.
So reicht es schon, wenn der Vorsitzende des Verbandes Junger Unternehmer, als Gast hinzugebeten, die Staatshilfen für Opel und die Abwälzung unternehmerischer Haftung auf den Steuerzahler kritisiert, um Steinmeier in die Defensive zu drängen. "Es kann ja sein, dass sie das alles besser wissen", mault der Kanzlerkandidat beleidigt zurück und verteidigt die milliardenschwere Stützung für den Rüsselsheimer Autobauer, die er fälschlich schon als endgültige "Rettung" ausgibt.
Richtig übellaunig reagiert Steinmeier auf eines jener vermeintlich lustigen Einspielfilmchen, das ihn als "Frank-Walter-Supermann" zeigt, der dem "schwarzen Baron" von und zu Guttenberg zeigt, wo beim Opel der Keilriemen schnurrt.
Solcherart Spott angesichts des ernsthaft drohenden Verlusts Tausender Arbeitsplätze - darüber kann er nun gar nicht lachen. Gerhard Schröder freilich hätte den Ball, Pardon: die Supermann-Persiflage einfach aufgenommen und die Heldenstory eigenhändig weitergesponnen. Aber für Pointen ist Steinmeier nicht zuständig: "Politik ist keine Castingshow", sagt er brav, und zu dem Hinweis der Moderatorin auf Widersprüche in der sozialdemokratischen Steuerpolitik - mal geht's runter, mal geht's rauf mit dem Spitzensteuersatz - fällt ihm der schöne Satz ein: "Nicht jede Politik ist zu jeder Zeit die mögliche." Wir verstehen: 2004 war die Agenda 2010 möglich, 2009 aber nicht. Und was ist morgen?
Diese beklemmende Zeit- und Ortlosigkeit der deutschen Sozialdemokratie ist es wohl, die ihre angestammten Wähler zu Hause bleiben lässt. Von den Wechselwählern der ehedem "neuen Mitte" ganz zu schweigen.
Ein kleines Lehrstück über die auch selbst verschuldete Defensive, in der die SPD steckt, lieferte das Ende der Sendung. Steinmeier wurde mit einem seit fünf Jahren arbeitslosen Mann aus Bad Doberan bei Rostock konfrontiert, der trotz vielerlei Bemühungen keinen festen Job finde und auf "Hartz IV" angewiesen sei. Offenbar gab es verschiedentlich Jobangebote der Arbeitsagentur, die er wohl sämtlich ausgeschlagen hatte.
Leider versäumte Anne Will, hier genauer nachzufragen. Die Zuschauer erfuhren nur so viel: "Um jeden Preis" wolle er nun auch nicht arbeiten. Leih- und Zeitarbeit hält er jedenfalls für "moderne Sklaverei, die verboten gehört". Gerade durch Schröders - und Steinmeiers - Agenda 2010 aber wurden diese Instrumente des prekären Arbeitsmarkts besonders gefördert. Steinmeier hätte also klar Stellung beziehen müssen. Das aber, so glaubte er wohl, wäre ihm als unsoziale Hartherzigkeit ausgelegt worden. So bekannte er, dass dieses Schicksal "nicht einfach an ihm vorbei" gehe: "Ich hab' da zwei, drei Ideen, was Rostock angeht". In "drei, vier Wochen" könne die Frau Will ja dann berichten, ob es geklappt habe mit einem Job für den Mann aus Bad Doberan.
Wir verstehen: der Außenminister als persönlicher Arbeitsvermittler. So erfreulich das ist: Politik mit "klarer Kante" (Franz Müntefering) sieht anders aus. Von großer Linie ganz zu schweigen. "SPD in Insolvenz" titelt die "taz" am Montag. Aber selbst als Konkursverwalter für den Neustart ist niemand in Sicht.