Umgang mit lautem Leben "In Gedanken sollten alle zum Südpol"

Erling Kagge, Jahrgang 1963, führt in Norwegen den Verlag Kagge Forlog. In einem früheren Leben war er Abenteurer: Er war der erste Mensch, der alleine an den Südpol marschierte und der erste, der die sogenannten drei Pole bezwang, also Südpol, Nordpol und Mount Everest. Nebenher ist er Kunstsammler. Kagge lebt in Oslo.
SPIEGEL ONLINE: Herr Kagge, wie leicht man Ruhe findet, macht die deutsche Ausgabe Ihres Buchs vor: Das Hardcover innen zeigt eine Straßenkreuzung - mit dem weißen Papierumschlag außen wird es still.
Erling Kagge: Ja, wie toll das funktioniert, habe ich erst gemerkt, als ich die deutsche Fassung in der Hand hatte. Was ist das für eine Kreuzung?
SPIEGEL ONLINE: Das ist der Rosenthaler Platz in Berlin-Mitte 2011 nach einer Kunstaktion, bei der Autos bunte Farben auf dem Asphalt verteilten.
Kagge: Dieser auch optisch laute Inneneinband bildet ab, dass die Facetten des Lärms immer mehr werden. Dass wir die Ruhe als Gegenpol brauchen, ist banal, klar. Aber ich entschied mich, darüber zu schreiben, weil sich die meisten Bücher, die ich über Stille las, vor allem um Meditation, Achtsamkeit, Zen drehten, um das Leben im Kloster für eine Woche oder ein Jahr. Diese Wege verlangen, dass du eine Technik anwendest, Geld ausgibst oder dein Zuhause hinter dir lässt. Wie absurd das ist, weiß ich, weil ich auch schon nach Sri Lanka geflogen bin, um Yoga zu machen.

Kunstaktion "Painting Reality": "Dass wir die Ruhe als Gegenpol brauchen, ist banal, klar"
Foto: Iepe RubinghSPIEGEL ONLINE: Am Südpol waren Sie auch - mehr Stille geht nicht, oder?
Kagge: Ich hätte das Buch nie schreiben können, hätte ich diesen Trip nicht gemacht. Dabei ging es anfangs nur um Ehrgeiz: Ich wollte der Erste sein, der das allein schafft. Aber schon bald, nachdem ich losgelaufen war, einen guten Rhythmus gefunden hatte, reiste ich immer mehr in mich selbst. Was zuerst weiß und flach wirkte, änderte sich. Plötzlich tauchten Farben auf, Pink- und Gelbtöne im Schnee. Das Eis besaß Struktur und war nicht komplett still, es bewegte sich. Aus praktischen Gründen geht das zwar nicht in der Realität, aber: In Gedanken sollten alle zum Südpol. Um zu erfahren, wie es sich anfühlt, sich körperlich auszulaugen, nicht zu sehr zu denken, umgeben von den Elementen, der Kälte, dem Wind, der Sonne. Weil ich niemanden zum Reden hatte, trat ich in einen Dialog mit der Natur ein. Und merkte: Die Stille, die ich meine, hat weniger mit Dezibel zu tun, sie ist eher eine Idee, ein Gefühl.
SPIEGEL ONLINE: Das Geschäft mit der Stille hat eine ganze Industrie hervorgebracht - was unterscheidet Ihr Buch vom herkömmlichen Achtsamkeitsratgeber?
Kagge: In solchen Büchern geht es nur um eine spezifische Art von Stille. Viele verstehen nicht: Stille ist viel leichter und unkomplizierter erlebbar, man muss dafür nirgendwo hinreisen. Eben weil ich kein Philosoph bin, fand ich eine Perspektive wie meine wichtig: Ich will zeigen, dass es viele Wege gibt, diesen Ruhepunkt in sich zu finden. Ich versuche etwa, jeden Morgen zu Fuß ins Büro zu gehen - das Foto auf dem Inneneinband erinnert mich übrigens an die befahrene Kreuzung, an der ich dabei täglich vorbeikomme.
SPIEGEL ONLINE: Dass sie in der halben Stunde Fußweg Ruhe finden, funktioniert also doch nicht?
Kagge: Doch, weil ich Momente erlebe, die ich in der U-Bahn oder im Auto nicht wahrnehmen könnte: Ich kann mir in Ruhe Gesichtszüge ansehen, das Wetter erleben, verschiedene Sorten von Asphalt betrachten und hier und da Pflastersteine, die jemand sorgfältig verlegt hat. Im Prinzip kann ich diese innere Stille auch erleben, wenn ich mich an die Rollbahn eines Flughafens setze. Problematisch wird die Kakophonie an Eindrücken erst, wenn das Leben immer so ist. Aber genau das passiert gerade: Wir werden von der Technologie, die wir nutzen, verändert. Es fällt uns allen immer schwerer, nicht permanent mit Geräten und anderen Menschen verbunden zu sein. Die Welt ist immer ganz nahe, wir können die Dinge nicht mehr auf Abstand halten. Am besten, Du schaltest Dein Telefon aus, die anderen Geräte ebenfalls. Es ist auch gut, einfach alleine zu sein, und wenn es nur fünf Minuten sind.
Preisabfragezeitpunkt
06.06.2023 09.33 Uhr
Keine Gewähr
SPIEGEL ONLINE: Verzeihung, aber das sind doch Binsenweisheiten.
Kagge: Klar, aber erst wenn wir uns nicht mehr ablenken lassen, von Geräten, Verpflichtungen, Erwartungen, hören wir auf einmal all den Lärm im Kopf. Wir denken über die Vergangenheit oder die Zukunft nach - nie über das Jetzt. Aber nur im Jetzt triffst du dich selbst. Das ist eine der härtesten Begegnungen, die du haben wirst in Deinem Leben.
SPIEGEL ONLINE: Warum ist diese Begegnung so hart?
Kagge: Will man sich kennenlernen, entdeckt man sympathische, unsympathische, frustrierende Dinge. All das bringt dich am Ende dir selbst näher, führt zu mehr Zufriedenheit. Um herauszufinden, ob man ein guter Ehemann, eine gute Schwester, ein guter Mitmensch ist, muss man sich kennenlernen. Und dafür brauchen wir die Stille. Das kostet erst einmal Zeit und Energie, macht schlechte Laune. Ist doch klar, dass wir versuchen, das zu vermeiden und stattdessen irgendeine App auf dem Smartphone öffnen. Der Philosoph Blaise Pascal schrieb schon im 17. Jahrhundert: Die Gegenwart schmerze, und die Schmerzen, allein zu sein, seien kaum auszuhalten. Also fangen wir an, etwas zu tun. Und heute sind die Versuchungen, sich abzulenken, noch viel größer.
SPIEGEL ONLINE: Sie lesen Pascal, reflektieren über Munchs "Schrei" - versuchen also, die Ruhe über Kunst, Literatur und Philosophie zu erfahren. Ist das nicht schlicht eine weitere Strategie der Ablenkung?
Kagge: Vielleicht. Mein Ideal bleibt aber immer, einfach eine Weile allein ruhig in einem Raum zu sitzen. Es reicht auch, sich auf eine Sache zu konzentrieren, zu stricken, Bier zu brauen, Holz zu hacken - oder ein Instrument zu spielen. Mir hilft Abspülen. Für mich ist das immer der Moment, in dem ich mal allein sein kann. Und keiner motzt. Alle haben ja was davon, wenn die Küche sauber ist.
SPIEGEL ONLINE: Wie wichtig Ihnen die Kunst ist, zeigen die Werke von Catherine Opie, Ed Ruscha, Doug Aitken im Buch. Alle in Blautönen. Ist Stille blau?
Kagge: Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Für viele gilt Grün als die Farbe der Stille, psychologischen Studien zufolge wirkt es beruhigend. Für mich ist Blau vor allem leise und sehr poetisch.