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"Sündiges Berlin": Mädchen, Stricher und Kokain

Foto: Index Verlag

"Sündiges Berlin"-Party Verrucht mit Rauchverbot

Sex, Drogen, Rausch: Das Berlin der zwanziger Jahre war ein heißes Pflaster. Noch heute spüren Amüsierwillige dem verruchten Mythos nach, jetzt können sie sich kompetent in dem Bildband "Sündiges Berlin" informieren. Und dann stilecht eine Zwanziger-Party feiern wie jüngst in der Volksbühne.
Von Peter Pichtermann

Berlin - Wieder ist es ein Amerikaner, der den Deutschen erzählt, dass sie einst ein ziemlich lebenslustiges, sexuell ausschweifendes Völkchen waren. Zumindest diejenigen, die in Berlin lebten, und das auch nur in den legendären zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts.

Der opulente Bildband "Sündiges Berlin" des Harvard-Dozenten Mel Gordon, in den USA bereits 2006 erschienen, wurde unlängst in einem winzigen Provinzverlag, der ansonsten unter anderem satanische Schriften vertreibt, in deutscher Übersetzung herausgebracht. Ein Coffee-Table-Traum mit dem Untertitel "Die Zwanziger Jahre: Sex, Rausch, Untergang", der jenen Mythos beschwört, der schon Christopher Isherwood zu seinem Roman "Goodbye to Berlin" inspirierte, Vorlage für das Musical "Cabaret". Sexuelle Ausschweifungen, Homosexualität, Transsexualität, Prostitution, S & M und überhaupt die verruchte Verkommenheit des Berliner Nachtlebens, all das lässt noch heute die Augen der vielen jungen Amerikaner und anderer Touristen hoffnungsvoll leuchten, die nach Berlin kommen der billigen Buden, Biere und des Berghains wegen.

Jede Menge Damen in hautengen Satinkleidern

Die Lesung aus "Sündiges Berlin" in der Berliner Volksbühne, eingebettet in die Zwanziger-Jahre-Mottoparty "Boheme Sauvage", schwänzten die Touristen. Gekommen in den "Grünen Salon" mit seinem plüschigen Charme sind vor allem eingeborene Berliner, die sich in die Kleidung ihrer Großväter und Urgroßmütter geworfen haben, während die zugereiste Hauptstadtboheme gerade anderswo unterwegs ist - um die Ecke in Berlin-Mitte, dort, wo die Dress- und Einlasscodes komplexer sind.

Hier in in der Volksbühne reicht eine einigermaßen glaubwürdige Twenties-Performance. Während im Rheinland gerade der Karneval zu Ende gegangen ist, tummeln sich in der Volksbühne Gigolos im Frack, kräftige Proletarier mit Hosenträgern und jede Menge Damen mit hautengen Satinkleidern, Boas und Zigarettenspitzen, die allerdings nicht benutzt werden dürfen. Ein um das andere Mal mahnt der Conferencier "Daniel Malheur" das Rauchverbot im ganzen Hause an.

Verrucht, das war gestern: Der Bilderreigen von "Sündiges Berlin" beginnt mit der Zeit unmittelbar nach den Verwüstungen des Ersten Weltkrieges. Hyperinflation und der Zerfall der alten Ordnung des Kaiserreichs treiben Berlin in den finanziellen Ruin, der die Elendsprostitution befördert. Die preußische Kapitale wird zu einer beliebten Destination internationaler Sextouristen mit harter Währung, doch im Umfeld des moralischen "Niedergangs" und der allgemeinen Tanzwut aus Verzweiflung regen sich auch zarte Pflanzen der Emanzipation. Mit der Einführung der Rentenmark beginnt sich das Leben etwas zu stabilisieren - nun betreten die Schwulen und die Lesben, die Transsexuellen die Bühne, werden sichtbar und bilden eine Infrastruktur.

Ihr aller Anwalt ist der Sexualforscher Magnus Hirschfeld, dessen Berliner "Institut für Sexualforschung" damals weltweit einzigartig war, bevor es wie weite Teile der gesellschaftlichen Freizügigkeit von den Nazis zerstört wurde - es sollte Jahrzehnte dauern, bis seine Schriften den Weg zurück nach Deutschland fanden, übrigens zunächst als amerikanischer Re-Import. Und erst Ende letzten Jahres beschloss der Deutsche Bundestag nach zähem politischen Ringen die Gründung der "Magnus-Hirschfeld-Stiftung", die sich mit Bildung, Wissenschaft und Erforschung von homosexuellen Lebenswelten heute und in der Vergangenheit beschäftigt.

Eheleute mit Dildosammlung

In der Bundesrepublik wurde die Sexologie zum Stiefkind, zuletzt schloss Roland Koch im Jahr 2006 das "Frankfurter Institut für Sexualforschung", umso relevanter ist Mel Gordons "Sündiges Berlin", das inhaltlich im Rahmen eines Bildbandes weitgehend wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Ergänzt durch mühsam in meist privaten Sammlungen geborgenes Bild- und Illustrationsmaterial zeichnet er unter Zuhilfenahme der rar gesäten Literatur ein eingängiges Bild jener Übergangsjahre zwischen zwei Weltkriegen, die aufgrund ihrer aus dem Ruder gelaufenen Wildheit heute vor allem die Saturierten faszinieren.

Hier in der Berliner Volksbühne amüsieren sich heute Eheleute und Paare, mag auch das ein oder andere von ihnen schon mal den sexualfreundlichen Club "Insomnia" besucht, den "Kit Kat Club" von innen gesehen haben oder zu Hause eine Dildosammlung besitzen. In der Merkel-Republik aber mit ihren Abwrackprämien sind im Gegensatz zu damals auch die Prekärsten nicht gezwungen, ihre eigenen Kinder auf den Strich zu schicken. Und auch ansonsten sind der moralischen Verkommenheit Grenzen gesetzt in einem Land, das sich gerade einen Pfarrer zum neuen Staatsoberhaupt erkoren hat.

"Schlimmer als in Rom" sei es damals in Berlin gewesen, erklärt Marko Schäfer aus Rheinland-Pfalz den Berlinern. Er ist im Namen des Index-Verlages hier und liest in schönster Max-Raabe-Manier aus dem Band vor, während hinter ihm die dazugehörigen Bilder auf die Leinwand projiziert werden. Er erzählt von einer Welt , die eben auch von großer Not durchdrungen war. Von Hinterhofbordellen und Nacktbars, in denen sich Prostituierte und ihre Töchter auszogen, um etwas zu essen auf dem Tisch zu haben. Von einer Zeit mit einem unglaublich ausdifferenzierten Prostitutionsmarkt, der auch schwangere Frauen und minderjährige Knaben miteinbezog - und die doch mit klingenden Namen verbunden ist. Marlene Dietrich, Klaus Mann und überhaupt die "Dreigroschenoper" - zum Bildband mitgeliefert wird konsequent eine CD mit Liedern der Zeit von Claire Waldoff über Blandine Ebinger bis Willy Rosen.

Lustschmerz aus dem Nachtprogramm

Mel Gordons "Sündiges Berlin" spannt den Bogen, hat man den Band in Händen, inhaltlich noch viel weiter. Er berichtet von der Licht- und Luftbewegung, den Anfängen der Freikörperkultur, der beginnenden Sexualforschung. Beleuchtet wird das weite Feld des "Lustschmerzes" der heute - in nächtlichen Dokumentationen des Privatfernsehens zumindest - längst alltäglich scheint. Gordon scheut nicht die Nebel von Sexualmagie und Okkultismus, verbunden etwa mit dem Namen des legendäre Hellsehers Hanussen, und widmet sich auch den dunklen Seiten der zeitläufigen Sexualverbrechen - bis schließlich das Kapitel "Weltenbrand" dem Treiben ein Ende bereitet. Die Nazis kommen - "Goodbye to Berlin".

Als die Lesung in der Berliner Volksbühne vorüber ist, sind manche der Besucher schon recht unruhig geworden. Sie können nicht erwarten, endlich mit dem Feiern zu beginnen, möglichst "ohne Ende" wie in der Ankündigung der "Boheme Sauvage"-Mottoparty angekündigt. Die Nacht zum Tage machen und sich amüsieren wie Bolle im Burlesque-Style, das können die Berliner noch immer. Sex und Rausch, das alles in Maßen, gehören zum modernen Deutschland ganz selbstverständlich dazu, da braucht es keinen weiteren amerikanischen Rat. Aber "Sex, Rausch, Untergang"? Man fragt sich unwillkürlich, wie es zu dieser Stunde in Athen zugeht.

Mel Gordon: "Sündiges Berlin - Die zwanziger Jahre: Sex, Rausch, Untergang", Index-Verlag, 279 Seiten, 39.99 Euro
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