Tageskarte Küche Was Sterneköche heimlich lesen

Kochbücher gibt es wie Sand am Meer. Doch was lesen Sterneköche heimlich unter der Decke, bevor das Sandmännchen kommt? Acht Standardschmöker, in die auch die ausgebufftesten Profis gern mal eine Nase reinstecken.

"Aldidente", "Weight Watchers", "Schlank im Schlaf", "Metabolic Balance", "Satt und schlank mit der 'Volumetrics-Diät'" – kein Berufskoch käme auf die Idee, die Top-20-Werke der aktuellen Kochbuch-Hitlisten auch nur eines Blickes zu würdigen. Schon, weil diese Charts von TV-Hype-Kochkleinkünstlern (Mälzer, Wiener) oder noch öfter vom Diätwahn beherrscht werden, was im Grunde nur sich für ihr Gewicht zu klein fühlende Frauen und Männer mittleren Alters interessiert. Eine Zielgruppe, die an den zischenden Posten zwischen Entremetier und Rotisseur eher selten gesichtet wird.

Offen in seiner Küche mag kaum ein Maître freiwillig Kochbücher stehen haben, das verbietet meist der Stolz. Wir haben dann aber mal im Schreibtisch-Geheimfach des Chefbüros nachgesehen und sind auf acht Wälzer gestoßen, die auch die gestärkteste Mütze vibrieren lassen.

1) Lernen von den Meistern

Da kann er in Frankreich durch seine Steuerflucht nach Monaco noch so sehr den Buhmann spielen, Alain Ducasse ist und bleibt einer der drei wichtigsten und einflussreichsten Köche der vergangenen 20 Jahre. Neben seinem Standardwerk der Patisserie sind es vor allem die insgesamt 1200 Rezepte der Bücher "Grand Livre de Cuisine – Kulinarische Enzyklopädie" und des soeben erschienenen "Grand Livre de Cuisine – Die mediterrane Küche", deren Nachkochen zusammengerechnet ein halbes Jahrzehnt beanspruchen würden. Ob "Glacierte Seespinne", "Fricassée von Milchkalbsnieren" oder allein 14 verschiedene sauschwere Rezepte mit Bresse-Huhn – Ducasse bleibt bis in die letzte Zutat fehlerfrei bei absoluter Präzision der Beschreibungen und Perfektion der Techniken. Als ich neulich ein arg ramponiertes, fettverschmiertes Exemplar der "Enzyklopädie" bei einem norddeutschen Sternekoch rumstehen sah, zuckte der nur kurz mit den Schultern: "Oder weißt du auswendig, wie du eine Schnepfe oder eine Fettammer zubereiten musst?"

Für den ambitionierten Hobbykoch etwas zugänglicher und überschaubarer sind die 53 "Prüfungs"-Rezepte aus "Die Meisterschule der Jeunes Restaurateurs”. 49 Mitglieder dieses kleinen, hoch exklusiven Kochzirkels (von Alexander Herrmann bis Klaus Erfort) zeigen hier je ein Gericht, das sie aus der Sicht ihrer Gesellenzeit einerseits und auf der Höhe ihrer Meisterschaft andererseits komponiert haben. Alle Rezepte sind in einem gut ausgerüsteten Privathaushalt nachkochbar und bieten eine spannende Möglichkeit, herauszufinden, wo zwischen Geselle und Meister man selbst steht.

2) Warenkunde Meeresfrüchte

Mit einer weltweit einzigartigen Detail-Verliebtheit zeigt der Kölner Fotograf und Herausgeber des Genießer-Fanzines "Port Coulinaire" , Thomas Ruhl, in seinem Buch "Die See: Das Culinarium der Meeresfische" und jetzt im zweiten Band "Die See: Das Culinarium der Weich- und Krustentiere" die wundersame Welt der Armfüßler, der westindischen Spitzschnecke, des Bärenkrebses, der Gelbschwanzmakrele oder der dicklippigen Meeräsche. Doch, doch, das alles kann man essen, und Ruhl erklärt mit aberwitzig brillanten Fotos warum und wie (Rezepte diverser Spitzenköche). Wer den Langmut und die Zeit hat, kann hier trotz mühsam zu lesender Sprach-Hänger in kulinarische Weiten vorstoßen, die so noch nie ein Mensch zuvor gesehen hat.

3) Grenzkochen

Die sogenannte molekulare Küche ist gerade wieder in aller Munde, leider aber nur verbal. Alle quatschen durcheinander, kaum jemand hat so was schon mal gegessen. Um so besser, dass der Mainzer Polymerforscher Prof. Dr. Vilgis, zugleich einer der wenigen lesenswerten Autoren der Zeitschrift "essen & trinken", mit "Die Molekularküche" scharfen Verstandes eine aktuelle Bilanz der Experimente zwischen flüssigem Stickstoff und Sauerkraut-Lutscher zieht.

Wer sich vorurteilsfrei und perfekt angeleitet in dieses Abenteuer stürzen will (siehe auch nachfolgendes Rezept), sollte sich "Verwegen kochen" dazubestellen. Heiko Antoniewicz und Klaus Dahlbeck zeigen das ganz große Molekularkino, was man von dem Buch "Tapas im 21. Jahrhundert" leider nicht sagen kann. Obwohl der Ferran-Adrià-Schüler Paco Roncero hier 60 echte High-End-Rezepte bringt, ist der Text kaum brauchbar, grottenschlecht übersetzt und fehlertriefend lektoriert. Schade um die hübschen "Hühnchen-Teriyaki mit elektrischer Zuckerwatte".


Buchhinweise

1) Lernen von den Meistern:

Alain Ducasse: "Grand Livre de Cuisine – Kulinarische Enzyklopädie". Matthaes Verlag, Stuttgart; 1055 Seiten (inkl. CD-Rom); 700 Rezepte; 88 Euro. Alain Ducasse: "Grand Livre de Cuisine – Die mediterrane Küche" Matthaes Verlag, Stuttgart; 1080 Seiten (incl. CD-Rom); 500 Rezepte; 88 Euro. Jeunes Restaurateurs: "Die Meisterschule der Jeunes Restaurateurs". Gräfe und Unzer, München; 288 Seiten; 53 Rezepte; 39,90 Euro.

2) Warenkunde Meeresfrüchte:

Thomas Ruhl: "Die See: Das Culinarium der Meeresfische". Umschau, Neustadt/Weinstr.; 312 Seiten; 43 Rezepte, 64 Euro. Thomas Ruhl: "Die See: Das Culinarium der Weich- und Krustentiere". Umschau, Neustadt/Weinstr.; 312 Seiten; 34 Rezepte, 64 Euro.

3) Grenzkochen:

Paco Roncero: "Tapas im 21. Jahrhundert". Heel, Königswinter; 224 Seiten; 60 Rezepte, 45 Euro. Prof. Dr. Thomas Vilgis: "Die Molekularküche". Tre Torri, Wiesbaden; 216 Seiten; 50 Rezepte, 49,90 Euro. Heiko Antoniewicz und Klaus Dahlbeck: "Verwegen kochen". Matthaes Verlag, Stuttgart; 240 Seiten; 57 Rezepte, 68 Euro.

Rezept für dekonstruierte Antipasti (Vorspeise für 4 Personen)

Zubereitungszeit: 1,5 Stunden (plus 3 Stunden Gelier-/Trocknungs-/Kochzeit)

Schwierigkeitsgrad: schwer

Zutaten: Vitello Tonnato: 200 g ausgelöster Kalbsrücken, 500 ml Rinderbrühe (am besten Marke Eigenbau), frischer schwarzer Pfeffer aus der Mühle, Salz zum Abschmecken; 150 g frischer Tunfisch, 1/2 Stange sehr fein gemörserter Kubebenpfeffer, Salz zum Abschmecken, 100 ml Sahne, 3,2 g Xantana (E 415 Xanthan aus fermentierter Maisstärke; alle erwähnten Texturas beziehbar z.B. über Avantgarde-Cooking ), 20 eingelegte Kapernfrüchte aus dem Glas, 100 ml der Einlegeflüssigkeit, 0,5 g Agar (E 406, Geliermittel aus Rotalgen).

Zucchini: 2 dünne, gerade gewachsene Bio-Zucchini, 3 El mildes Olivenöl, je 1/2 Tl grob gehackter Oregano und Rosmarin, 1 Tl Kräutersalz (ideal: Sale alle erbe delle Marlunghe von Vignalta – z.B. über Bella Italia ).

Melone mit Parmaschinken: 6 Scheiben Parmaschinken, 1 große Galiamelone, 1 kleine rote Chilischote, 1 Tl gelbe Murray River Solesalzflakes (über All Australian ), 6 g Gellan (E 418, aus fermentierten Bakterien gewonnenes Geliermittel – alle Texturas, die hier benutzt werden, sind zur Herstellung Bio-zertifizierter Lebensmittel zugelassen und bestehen aus rein natürlichen Inhaltsstoffen). Zum Ausdekorieren evtl. etwas rote Zwiebelmarmelade und pulverisierte Lebensmittelfarbe "Goldglimmer"  (o.k. – das nun ist pure Chemie...).

Zubereitung: Vitello Tonnato: Rinderbrühe zum Kochen bringen, mit Pfeffer und Salz kräftig abschmecken, Kalbsrücken einlegen, vom Herd nehmen und 8 Minuten ziehen lassen. Fleisch dabei mit kleinem Topf beschweren. Das ausgekühlte Fleisch in vier 0,8 cm dicke Scheiben schneiden, mit quadratischem Ausstecher und scharfem Messer auf ca. 6x6 cm (oder die Größe des Ausstechers/Dessertringes) zuschneiden, kalt stellen. Tunfisch im Mixer mit Sahne und dem Pfeffer fein pürieren, mit Salz abschmecken, in Rührschüssel umfüllen. Nach und nach das Xanthan mit Mixer auf hoher Stufe einrühren, ca. 3 Min. weiter rühren, bis die Masse spürbar fester wird. Masse in flaches, rechteckiges, mit Küchenfolie ausgelegtes Gefäß ca. 1,5 cm hoch einfüllen, Oberfläche glatt streichen, mit Folie bedecken, 3 Stunden im Kühlschrank aufbewahren. Die vier schönsten Kapernfrüchte mit Stiel zum Dekorieren beiseite legen, restliche Kapern entstielen, mit der Einlegeflüssigkeit im Mixer oder mit dem Messer des Schneidstabes fein pürieren, durch feines Haarsieb ziehen. Flüssigkeit vorsichtig mit Salz abschmecken, Agarpulver mit Schneebesen gut einrühren und bei mittlerer Hitze unter ständigem Rühren zum Kochen bringen lassen. In flaches, rechteckiges, mit Küchenfolie ausgelegtes Gefäß ca. 1,5 cm hoch einfüllen, 3 Stunden im Kühlschrank gelieren lassen. Vor dem Servieren aus dem Kaperngelee und dem schnittfesten Thunfischespesante je vier Quadrate ausstechen, exakt auf die Fleischquadrate auflegen (erst Gelee, dann das Espesante).

Melone mit Parmaschinken: Schinkenscheiben komplett von sichtbarem Fett befreien und 2 Stunden bei 85 Grad auf Küchenkrepp im Backofen trocknen. Scheiben zerbrechen, im Mörser fein zerkleinern, Pulver zwischen zwei frische Lagen Küchenkrepp mit Backblech beschwert weitere 30 Minuten trocknen lassen, danach erkalten lassen und erneut so fein wie möglich zu einem Pulver mörsern. Melone achteln, Schalen und Kerne entfernen, vier Quader von je ca. 4x4x6 cm schneiden. Zwei Scheiben mit je 1 cm Dicke abschneiden, so dass nun vier Würfel übrig bleiben. Scheiben aufheben. Rest der Melone im Mixer zerkleinern, durch feines Haarsieb streichen. Chilischote mit extrem scharfem Messer oder Skalpell (oder Rasierklinge) in hauchdünne Ringe schneiden. Gellan mit Schneebesen in den Melonensaft einrühren, kurz aufkochen lassen, vom Herd nehmen, Chiliringe einrühren, auf Zimmertemperatur abkühlen lassen. Mit einer Gabel die Salzflakes vorsichtig einrühren, die gelierende Masse in flaches, rechteckiges, mit Küchenfolie ausgelegtes Gefäß ca. 1 cm hoch einfüllen, 2 Stunden im Kühlschrank gelieren lassen. Nach 1 Stunde die Melonenwürfel vorsichtig eindrücken. Nach der Gelierzeit Würfel zusammen mit dem Gel-Sockel vorsichtig ausstechen, weitere 8 Quadrate aus dem Gel stechen und auf die Würfel abwechselnd mit den dünnen Melonenscheiben exakt aufschichten.

Zucchini: Die Zucchini gut waschen, abtrocknen, Enden abschneiden. Mit einem Zestenreißer möglichst gleichmäßige Streifen ausreißen (siehe Foto). Schalenstreifen mit etwas Salz vermischen, in 160 Grad heißem neutralen Öl goldbraun-grün frittieren, auf Küchenkrepp abtropfen lassen. Zucchini in vier Zylinder von je ca. 4 cm Höhe schneiden, hochkant auf Sieb in Kombidämpfer (oder Dämpfeinsatz im Topf) stellen. Salz und Kräuter auf die oberen Schnittkanten verteilen, langsam das Öl darüber träufeln. 13 Minuten dämpfen.

Anrichten: Die drei Elemente am besten auf schwarzen Schieferplatten servieren. Vitello Tonnato 20 Minuten zuvor aus dem Kühlschrank nehmen, nach Belieben mit Zwiebelkonfitüre und einer Kapernfrucht garnieren, die auch mit Goldglimmerpulver bestreut sein kann (siehe Foto). Melonenwürfel in dem Parma-Pulver wälzen, mit weiterem Pulver bestreuen. Zucchinizylinder noch heiß aus dem Dämpfer dazu stellen, mit dem Zucchinistroh garnieren, sofort servieren.

Küchen-Klang: Wir haben drei Stunden Zeit, um zwischen all den schick verchromten Boy Toys in der Küche zu erforschen, was man mit Klassikern des Heavy Metal so alles anstellen kann. Während die Sängerin Harriet Ohlsson vom Göteborger Trio Hellsongs Megadeths "Symphony of Destruction" oder Slayers "Seasons in the Abyss" auf dem Album "Hymns in the Key Og 666" (Bodog/Edel) zu Folk-Klampfe, Klimperklavier und Cello haucht, als lutsche sie beim Singen einen halben Mund voll Kapernfrüchte, verbreitert Braunschweigs Jazzkantine auf "Hell's Kitchen" (Sashimi/Rough Trade) diesen Ansatz mit Hilfe großer Gaststimmen von Xavier Naidoo (Metallicas "Nothing Else Matters") bis zu Tom Gaebel, der "Highway To Hell" von AC/DC verswingt. Zu viel Soft Metal? Dann helfen die extrem entspannten Dub-Riddims auf "Twenty Four Seven" (Reflexmuzic/edel) von Englands dienstältesten Reggae-Poppern UB 40 weiter.

Getränketipp: Zu diesem molekularen Aromenfeuerwerk könnte man einfach auch mal gar nichts trinken. Oder allenfalls eine Flasche Gosset Champagne  Gosset brut Excellence köpfen. Dieser Ausnahme-Champagner von Frankreichs Traditionskellerei (seit 1584) wird fast ausschließlich aus Trauben von Crand Cru Lagen gekeltert, was sich in einer perfekten Balance aus fruchtiger Perlage und blitzsauberen Weintönen niederschlägt.

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