Talk-Format "Roche & Scobel" Leben auf dem Mars

Charlotte Roche und Gert Scobel diskutierten im Paralleluniversum des ZDF mit jungen Gästen über Freud und Leid mit Drogen. Das Studio-Tohuwabohu präsentierte Fernsehen als lebendiges Diskursorgan. Aber hat überhaupt jemand zugeschaut?

Gestern um viertel nach acht lief im ZDF die beliebte Sendung "Lustige Musikanten". Wissen Sie, was Ihr Kind vor dem Computer gemacht hat, während Sie selbst zur Musik von Marianne & Michael, Kathrin & Peter und den Grazer Spatzen eine Flasche Wein geöffnet haben? Hat der Kleine Ego-Shooter gespielt? Illegal Songs aus dem Netz geholt? Pornos runter geladen und sich dabei die Hucke voll gekifft? Oder hat er vielleicht doch die intelligente Internet-Talkshow "Roche & Scobel" geschaut, in der über Freud und Leid von Suchtstoffen gesprochen wurde?

Spät in der Nacht lief die Sendung schließlich als Aufzeichnung im regulären ZDF-Programm, da konnten dann auch die weniger computeraffinen Alten mal einen Blick riskieren. Zuvor hatten Nina Ruge und Axel Milberg in Johannes B. Kerners Latenight-Plausch leicht umnachtet über Rückführungserlebnisse berichtet. Doch auf einmal, was für ein Schock fürs 60-Plus-Publikum des Senders, sprachen da nach all der Volkstümelei und Esoterik-Alberei Halbwüchsige über echte Erfahrungen und reale Probleme.

So ist das nun mal beim Zweiten: Der Abend gehört den Greisen und den Frühvergreisten, die Nacht und das Netz den Jungen und Junggebliebenen. Der Sender hat tatsächlich ein paar Nischen, in denen authentisches, manchmal sogar aufregendes Fernsehen gemacht wird. Da tut sich ein echtes öffentlich-rechtliches Paralleluniversum auf. Das Problem ist: Die wenigsten kennen es. Die meisten Jungen ahnen ja gar nicht, dass jene Anstalt, der nicht ganz zu unrecht der Ruf des "Kukident"-Senders anhängt, eine korrekte Sendung für sie im Angebot hat. Wer es sich gestern trotzdem um acht vor seinem Homecomputer bequem gemacht oder eben kurz nach halb eins vor dem Fernseher die Müdigkeit aus den Augen gerieben hatte, konnte tatsächlich der Premiere einer interessanten, wenn auch entwicklungsbedürftigen Talkshow beiwohnen.

Grüne Männchen nehmen Ecstasy

Dass es bei der interaktiv angelegten Produktion holperte, dürfte durchaus kalkuliert gewesen sein. Das Ganze war eben ein Experiment, das technisch und inhaltlich erst während der Sendezeit Kontur annahm. Freundlich ausgedrückt: Man sah hier einem neuen Format beim Entstehen zu. Mit der Fernsehfreischärlerin Charlotte Roche, seit ihrem Rausschmiss bei Viva ohne Sender-Heimat, und der 3sat-Allzweckwaffe Gert Scobel hatte man konsequenterweise zwei Medienprofis in Stellung gebracht, die auf unterschiedliche Weise einen freien Moderationsstil pflegen.

"Ich habe eine Web-Cam-Meldung von Igor", begrüßte irgendwann aufgeregt Roche den ersten per Internet zugeschalteten Zuschauer. Der war ganz grün im Gesicht und klang, als spräche er über die erste Satellitenverbindung zu einem fernen Planeten. Ja, es gibt Leben auf dem Mars! Soweit man das bei dem extremen Knacken und Rauschen hören konnte, erzählte das grüne Männchen etwas über Ecstasy und Bier.

Das nicht immer ganz sauber übertragene und artikulierte Plaudern prägte sowieso einen erheblichen Teil der Sendung. Roche lehnte sich am Anfang locker über einen Tresen und horchte ihre jungen Gäste nach Cannabis- und Spirituosenkonsum aus, versammelte ein paar bekanntere deutsche Musiker zu einer Art Drogenstammtisch und schlich schließlich misstrauisch um ein Bistrotischlein herum, an denen sich eine Truppe sporttreibender Alkoholverächter versammelt hatte. So, jetzt habe sie ein paar Vorurteile gegen Leute abgebaut, die keine Drogen nehmen, erklärte die illegalen Substanzen extrem aufgeschlossene Moderatorin nach einiger Zeit versöhnlich.

Bloß keine Verteufelung!

Die Stoßrichtung war eindeutig: Bloß keine Verteufelung! Dabei hatte die erste Ausgabe dieses neuen Formats, der in loser Folge weitere folgen sollen, ja einen sehr ernsten Hintergrund. Unlängst war der Suchtbericht der Bundesregierung veröffentlicht worden, die Zahlen darin sind drastisch: 1,6 Millionen Menschen sollen alkoholabhängig sein, zwei Millionen kiffen täglich. Die Sendung war als Beitrag zu der von der Deutschen Hauptstelle für Suchtgefahren (DHS) initiierten Suchtwoche gedacht.

Umso lobenswerter, dass man sich nicht in Belehrungen erging, sondern generell eher einen reflektierten Umgang mit Berauschungstechniken forderte. Und dafür fragte Drogenbraut Roche nun eben die positiven oder negativen praktischen Erfahrungen der jungen Gäste ab, während ihr, wie sie ihn selbst nannte, "Wissensdealer" Scobel Expertenrunden um sich versammelte. "Die Geschichte der Drogen ist eine Geschichte der Missverständnisse", sagte der TV-Denker an einer Stelle, um einen kurzen klugen historischen Abriss über Amphetamine, Koks und LSD zu geben.

Apropos Missverständnisse: Dass das Fachpersonal gelegentlich aneinander vorbeiredete, konnte man da hinnehmen. So schwärmte der nickelbebrillte Ethnopharmakologe Dr. Christian Rätsch von der Einnahme der Drogen als "wunderbaren Prozess der Individuation", während der in weniger psychedelischen Kategorien denkende Suchtmediziner Prof. Dr. Rainer Thomasius trocken konstatierte, dass es bei dem drastisch ansteigenden Cannabis- und Alkoholkonsum unter Jugendlichen meistens leider nicht um Selbsterkenntnis ginge, sondern ganz einfach ums "Wegdröhnen".

Durchfall und Depression

Viel ging bei der ersten Ausgabe von "Roche und Scobel" durcheinander. Eine junge Truppe aus Leipzig namens "Drugscouts" etwa plädierte fröhlich für einen bewussten Genuss auch härterer Stoffe: "Was ist in der Substanz drin? Was erwartet mich da? Was darf ich nicht damit zusammen nehmen?" Ihnen schräg gegenüber stand eine Gruppe empörter Mütter, deren Kinder unterschiedlichen Süchten anheim gefallen sind. Ihre detaillierten Berichte über die unerwünschten Nebenwirkungen Durchfall, Lethargie und Depression dienten als Warnung.

Sind Heranwachsende, denen nach Ansicht vieler Medien zwischen Flatrate-Saufen und Porno-Downloads wenig einfällt, angesichts eines solchen meinungsfreudigen Durcheinanders denn nicht einfach nur heillos überfordert? Wohl kaum. Ein intelligenter Tumult wie bei "Roche und Scobel" nötigt sie vielmehr dazu eigene Positionen zu formulieren, das kann für sie nur förderlich sein.

Jetzt müssten sie nur noch wissen, dass es so eine Sendung im Zweiten Deutschen Fernsehen überhaupt gibt.

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