Thalia Theater Hamburg Innige Iphigenie, rasender Romeo
Wie eng die Welt ist, wenn tödliche Probleme drängen: Feldherr Agamemnon, immerhin Boss der wohlbekannten griechischen Operation Troja, hat nur einen schäbigen Tisch samt Bürostuhl, als er entscheidet, seine Tochter zu töten. Als Opfer für die Göttin Artemis, die bessere Winde für die Kriegsflotte der Griechen senden soll.
Keine Bühnenweite, keine großen Bilder, keine Fluchtmöglichkeiten hat sich Regisseur Nicolas Stemann, Jahrgang 1968, für den Beginn seiner "Iphigenie" ausgedacht. Eine schwarze Wand, ganz vorn an der Rampe, eine schmale Tür, durch die sich Besucher und ein Hausmeister drängen, Saallicht an, Verhörsituation.
Dann Strategie-Streit zwischen Agamemnon (cool: Alexander Simon) und seinem Bruder Menelaos (Felix Knopp), es wird immer ungemütlicher. Erst langsam öffnet sich dann Schicht um Schicht der Raum für diese Iphigenie, die Stemann aus der fast zweieinhalbtausend Jahre alten Euripides-Version ("Iphigenie in Aulis") und der Goethe-Fassung ("Iphigenie auf Tauris") gebaut hat. Doch grelle Regietheater-Kapriolen interessieren den Spielleiter auch fortan weniger. Die Enge weicht, der Diskurs bleibt.
Billige Blumen und kitschige Goldvorhänge
Gleich zu Beginn nutzt Regisseur Stemann die Fallhöhe des griechischen Textes (Übersetzung von Dietrich Ebener), erzielt flotte Brechungen durch konterkarierende, zeitgenössische Comedy-Kommentare. Ein altbewährtes, wohlfeiles Mittel, immer für schnelle Lacher gut, doch hier klug und stimmig eingesetzt. Schnell betonen banale Scherze die Banalität des Brutalen, des Bösen.
Banal und billig auch die Dekoration für Iphigenies Ankunft, kitschige Goldvorhänge, billige Blumen, eine mickrige Torte und ein Bote im bräsigen Leihfrack: fast zuviel der visuellen Botschaft, dass hier Lug und Trug vor Tragik geht. Denn vermeintlich soll Iphigenie den Helden Achilleus heiraten - doch auch der ist eine Enttäuschung, er stolpert ungelenk daher, schwadroniert eitel über alles und nichts und will eigentlich lieber in den Krieg.
Iphigenies Mutter Klytaimnestra (Natali Seelig), eine prächtige Society-Zicke im Glitzergewand, möchte den jungen Kraftprotz, der gierig vom Hochzeitskuchen nascht, lieber erstmal selbst vernaschen. Wenig Zeit bleibt da für ihren just geborenen Sohn Orest, den sie ohne Mutterstolz eher als Accessoire herumträgt. Eine feine Gesellschaft.
Ein Messer schwebt im Raum
Nicolas Stemann, der zuletzt mit Elfriede Jelikneks "Ulrike Maria Stuart" am Thalia erfolgreich war, choreografiert die Bewegungen seines Personals mit flüssiger Perfektion: Seine Iphigenie, von der jungen Lisa Hagmeister mit spröder Zurückhaltung und fast zu leise gespielt, taumelt als "poor little rich kid" wie benommen um ihr Schicksal herum, während alle anderen sich eitel spreizen. Errettet werden kann sie nur von der Göttin Artemis - und auf die Insel Tauris verbannt, wo nach dem Trojanischen Krieg, zehn Jahre später, Goethes "Iphigenie" den Faden wieder aufnimmt.
Vom Klamauk zum Kammerspiel: Katharina Matz und Lisa Hagmeister verkörpern im Wechselspiel die zur Priesterin gewordene Iphigenie, nirgends auf der Bühne blüht mehr Kitsch, die Insel Tauris steht als dunkler Raum, über dem ein Messer schwebt - das Messer, mit dem Iphigenies Bruder Orest zur Sühne getötet werden soll, denn er hat seine mörderische Mutter Klytaimnestra getötet, nachdem diese seinen Vater Agamemnon gemeuchelt hatte.
Mit kreisenden Bewegungen der Figuren und der Drehbühne sammelt Regisseur Stemann seine Themen wieder ein, er verengt den Raum erneut und ihm gelingt nach knapp drei Stunden das kleine Kunststück, fast organisch zum Anfang zurückzufinden. Wieder wächst die Wand, wieder sitzt der auskunftsbereite Agamemnon am Tisch, der Hausmeister kommt erneut - die Endlosschleife des irdischen Leids. Banal und trostlos, aber griffig.
Paukenschlag zum Saisonstart: Romeo und Julia
Purer Luxus hingegen auf der kleinen Bühne: Drei Tage zuvor hatte Andreas Kriegenburg mit William Shakespeares "Romeo und Julia" in der Altonaer Gaußstraßen-Dependance des Thalia bereits eine Paukenschlag-Inszenierung zum Saisonstart abgeliefert. Mit krassen Kontrasten aus grellbunter Bilder-Wucht und pastellenen, poetischen Zwischentönen sprengt er beinahe die sparsamen Räume des kleinen Hauses.
Keine zwanghafte Aktualisierung, sondern eine genaue Bestandsaufnahme des zeitlosen "Romeo"-Potentials: ein treffsicherer und publikumswirksamer Zugriff der Regie. Sportlich federnd und über mehrere Ebenen bespielte das Ensemble zunächst das enge Foyer, junge Liebe und mafiamäßig mit Handfeuerwaffen dekorierte Clan-Gewalt turnten über eine Stahl- und Plexiglas-Konstruktion. Dann wechselte die Aktion zur Bühne nebenan - wo Kriegenburgs Regie während drei Stunden mit Sprach-Intimität ebenso wie mit pointierten Bild-Ideen brilliert.
Ein Hauch von Arroganz
Patronenhülsen pflastern die Schritte aller Akteure, Erinnerung an geschlagene Schlachten der Capulets und Montagues, schlüpfriges Terrain für Romeo und Julia. Eine rohe, quadratische Holzplatine hängt von oben herab, wird Wand, Balkon und Decke eines flugs angedeuteten Gefängnisses, in dem beide Familien stehen - rasend schnell wechseln die Bilder, bevor die Handlung ebenso abrupt wieder auf purer Sprache und den makellos agierenden Darstellern ruht.
Die filigrane Olivia Gräser spielt eine Julia, deren Schmerz einem schier das Herz zerreißt. Ihr bildhübscher Romeo (Daniel Hoevels) hat alle Mühe, in diesem Emotions-Orkan nicht unterzugehen. Schneidend scharf und gar nicht versöhnlich der starke Bruder Lorenzo von Helmut Mooshammer, beklemmend dicht Judith Hofmann als Amme. Komödiantisch keck und mutig klamottös Mercutio (Ole Lagerpusch) und Benvolio (Paula Dombrowski). Doch alle Rollen waren gleich hochrangig besetzt. Ein Hauch von Arroganz fast, ein solches Monsterstück, mit solchen First-Class-Schauspielern in angemessen innovativer Regie mal so eben vor 200 Zuschauern auf der Nebenbühne zu servieren. Wahres Understatement - wahre Größe.
Wenn diese beiden Arbeiten des Thalia Maßstab setzend für die ganze Saison sind, so dürfte das "Theater des Jahres" beste Chancen auf eine Titelverteidigung haben.