Theater-Eklat Schauspieler greift "FAZ"-Kritiker an - gefeuert
Berlin - Als der Theaterkritiker der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ("FAZ"), Gerhard Stadelmaier, gestern Abend zu einer Premierenvorstellung in der Mainmetropole ging, ahnte er noch nicht, was ihm widerfahren sollte. "Ich hatte mich eigentlich sehr auf das Stück gefreut", so der renommierte Autor.
25 Minuten lief die Premieren-Vorstellung von Eugène Ionescos "Das große Massakerspiel oder Triumph des Todes" im Theater in der Schmidtstraße, als Stadelmaier plötzlich angegriffen wurde.
Das Stück war als Aktionstheater angelegt, so dass Schauspieler und Publikum nicht streng von einander getrennt saßen. "Neben mir wurde einer hochschwangeren Frau die Fruchtblase zerstochen, zwei Männer masturbierten. Dann gebar die Frau einen toten Vogel", beschreibt Stadelmaier die Szene. Einer der Schauspieler, Thomas Lawinky, habe "Gebt dem da doch das Kind!" gerufen und auf Stadelmaier gezeigt. "Schreiben Sie doch, dass es ein schönes Kind ist!"
Mein Block
Stadelmaier aber lehnte den toten Vogel ab. "Als Kritiker wollte ich an dem Stück nicht teilnehmen", sagte er zu SPIEGEL ONLINE. Für den Schauspieler Thomas Lawinky war dies allerdings nicht akzeptabel. Er griff Stadelmaier an und entriss ihm seinen Notizblock. "Dann ist er damit weggelaufen und wollte daraus vorlesen." Als er meine Schrift nicht entziffern konnte, hat er mir den Block mit den Worten zurückgegeben: "Schreib weiter Junge, der Abend wird noch schrecklich!"
Stadelmaier, als einer der bekanntesten Kritiker der Republik für seine Urteile unter den Theatermachern gefürchtet, war konsterniert. Seinem Sitznachbarn, dem Kulturredakteur Alfred Huber vom "Mannheimer Morgen", erklärte er kurz darauf, er müsse nun gehen. Woraufhin Schauspieler Lawinky offenbar jedes gute Benehmen verlor. "Er hat geschrien: Hau ab, du Arsch, verpiss dich!", erinnert sich Stadelmaier.
Damit nicht genug. Lawinky habe Applaus für "den Kritiker", wie er Stadelmaier nannte, gefordert - Leute hätten geklatscht, erzählt der Angegriffene. Er sei einiges gewöhnt, so der Theaterkritiker, "masturbierende Männer, Blut und alle möglichen Körpersäfte auf der Bühne sind mittlerweile ja fast Standard". Aber der Vorfall am Donnerstagabend sei eine "ganz klare Grenzüberschreitung, eine Frechheit und ein beispielloser Vorfall" gewesen. "Vielleicht gehe ich damit in die Theatergeschichte ein, wenn auch nicht als Schreiber", sagt Stadelmaier.
Aggressiv statt kreativ
Frank Schirrmacher, Herausgeber der "FAZ", erklärte:
"Das muss eine sehr demütigende Situation gewesen sein, ich hoffe sehr, dass Gerhard Stadelmaier sich nicht in seiner weiteren Arbeit dadurch beeinflussen lässt." Er habe den Eindruck gehabt, dass Stadelmaier "völlig am Ende" sei.
Schauspieler Lawinky selbst war, trotz mehrfacher Nachfrage, bei seiner Berliner Agentur für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Nicht nur für Stadelmaier war der Angriff ein Skandal. Auch Kollege Huber, der die Schauspielerentgleisung live miterlebte, sagte: "Es war absolut peinlich und dreist, dass Stadelmaier zur Zielscheibe des Publikums wurde."
Ruth Fühner, die für den Hessischen Rundfunk bei der Aufführung war und Stadelmaier kennt, beschreibt die Szene, als der Schauspieler dem Kritiker den Notizblock entriss, als "starke körperliche Aggression". Schon vorher habe sie das Verhalten gegenüber Stadelmaier als "bedrängende Situation" wahrgenommen.
"Ich glaube aber, dass es sich um eine Privataktion des betreffenden Schauspielers gehandelt hat. Der war einfach total durchgeknallt", so Fühner. Was geschehen ist, habe sie zutiefst empört. "Es sind Grenzen überschritten worden - das wird auch dem Theater schaden."
Eine abweichende Version lieferte der Regisseur des Stücks, Sebastian Hartmann. Die Situation habe sich hochgeschaukelt, Stadelmaier habe in einer Form gestikuliert, die schon zu Beginn der Aufführung deutlich gemacht habe, was er von dem Stück hält - nämlich nichts. Hartmann räumte aber ein, dass die Reaktion des Schauspielers unangemessen gewesen sei: "Das ist nicht tolerierbar."
Die Premiere als Dernière
Nachdem Schirrmacher und Stadelmaier einen Brief an die Intendantin des Theaters, Elisabeth Schweeger, sowie an Petra Roth als Oberbürgermeisterin von Frankfurt geschrieben hatten, reagierte die Stadt heute mit einer Pressemitteilung. Es handele sich um einen "unentschuldbaren Zwischenfall, der sofortige Konsequenzen fordert", so Roth. Der Eklat sei ein Angriff auf die Pressefreiheit gewesen. Die CDU-Politikerin erwartet nun, dass die Bühne ihr Vertragsverhältnis mit Herrn Lawinky sofort beendet. Auch müsse eine "unverzügliche, unzweifelhafte und umfassende Entschuldigung durch die Intendantin bei Herrn Stadelmaier und der FAZ" erfolgen.
Heute Nachmittag gab Intendantin Schweeger ebenfalls eine Pressemitteilung heraus: "Außerhalb des künstlerischen Konzepts hat ein Schauspieler überreagiert und die persönliche Integrität eines Zuschauers, eines Kritikers, verletzt." Das Arbeitsverhältnis zwischen Theater und Schauspieler sei einvernehmlich beendet worden. Der Schauspieler Lawinky bedauere den Vorfall sehr.
Für Regisseur Hartmann ist der Rausschmiss des Schauspielers eine "emotional höchst schwierige Angelegenheit". Lawinky habe sich schon während des Stückes entschuldigt. Ohne den Schauspieler, so Hartmann, "ist die Inszenierung kaum fortzusetzen".