Theater-Star Nicolas Stemann "Man muss einfach guten Fussball spielen"
Kinder und Jugendliche gelten im Theater als das schwierigste Publikum. Keine Kundschaft gibt so deutlich zu verstehen, ob die Inszenierung ankommt oder verübelt jegliche Anbiederungsversuche an vermeintlich hippe Trends. So gesehen hat Nicolas Stemann das Schlimmste bereits hinter sich. Sein "Werther!" eroberte die Klassenzimmer und nahm die Hürde der Stadttheater locker hinterdrein.
Mehr als 250-mal, schätzt der Schauspieler Philipp Hochmair, hat er inzwischen in Nürnberg, Hamburg, Bochum oder Hannover den Lorbeerkranz aufgesetzt, um dann aber Goethes Liebesmonologe und gelehrte Exkurse (Homer!) wie ein Kochrezept vorzutragen. Er hat wütend Salat ins Publikum gefeuert und immer wieder mit seinem eigenen Videobild getanzt - nicht aufdringlich auf MTV getrimmt, sondern mit narzistischer Selbstverständlichkeit. Selbst an der künstlerisch verwöhnten Berliner Volksbühne bekam Hochmair dafür in dieser Woche stehende Ovationen.
Stemann und seine künstlerische Familie von Schauspielern und Musikern zählen derzeit unter den gefragten Theaterleuten zu den gefragtesten. Zum diesjährigen Berliner Theatertreffen steuern sie auch einen "Hamlet" vom Schauspiel Hannover bei. (Hochmaier spielt zudem in der Volksbühnen-Inszenierung "Stadt als Beute" von René Pollesch mit, die ebenfalls eingeladen wurde.) Am Freitag verkündete zudem das Wiener Burgtheater, dass Stemann dort ein neues Stück von Elfriede Jelinek inszenieren soll.
Die Uraufführung von "Das Werk" ist zwar erst für die kommende Spielzeit 2002/2003 geplant, doch sie wird lange im Vorfeld Wellen schlagen. Zum einen handelt es sich um die erste Aufführung eines Jelinek-Stücks am Burgtheater seit 1997. Aus Protest gegen Haider und seine rechtspopulistische Politik hatte die Autorin einen Aufführungsbann für die staatlichen Bühnen Österreichs erlassen, auch wenn sie ihn nicht durchgehend aufrecht erhielt. Zum anderen ist der 170-Seiten-Monolog, der sich am Staudamm in Kaprun als Symbol des österreichischen Selbstbildes festmacht, Einar Schleef gewidmet. Der Ausnahme-Regisseur und -Autor, der 1997 in Wien Jelineks "Sportstück" zum Ereignis der Saison gemacht hatte, starb überraschend im letzten Sommer.
Im mächtigen Schatten Schleefs zu stehen, und sich im Zweifelsfall mit der FPÖ und dem wählerischen Wiener Publikum anlegen zu müssen, gehört gewiss nicht zu den angenehmsten Aussichten. Doch der 33-jährige gebürtige Hanseat Stemann gibt sich unbeeindruckt: "Man kann sich vorstellen, wie Schleef das gemacht hätte", sagt er. "Ich mache ganz anderes Theater, aber auch mir wäre es völlig fremd, da irgend etwas Gefälliges hinzubasteln." Die Stadttheater, glaubt Stemannn, engagierten ihn als ja ohnehin, um sich im gewohnten Gang stören zu lassen. Als Institutionen mag der bisher frei arbeitende Regisseur sie nicht ernst nehmen. Er nennt das Stadttheater lieber ein "Genre", das, wie Komödie oder Krimi, bestimmte Themen, Sprach- und Sehkonventionen vorgibt - aber auch die Frage, ob man sie bedienen möchte.
Geheimnisvolles Eigenleben
Stemann hatte kurz Philosophie und Literaturwissenschaft studiert und am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg als Musiker gearbeitet, ehe er am Wiener Max-Reinhardt-Seminar und am Hamburger Theater-Institut sein Handwerk lernte (u.a. bei Jürgen Flimm und Christof Nel). Eine direkte Auseinandersetzung mit dem Text und oberlehrerhaften Textinterpretationen spielen in seinen früheren Inszenierungen eine wichtige Rolle. Wenn in "Werther!" am Anfang das Reclam-Heftchen per Video-Beamer groß in Szene gesetzt wird, sieht man die auch die Eselsohren und Kritzeleien gequälter Pennäler. Doch am Ende ist Stemann nicht wirklich ein Klassik-Zertrümmerer, auch wenn ihm dieses Etikett nach anderen klugen Adaptionen wie Schillers "Verschwörung des Fiesco zu Genua" (kombiniert mit "Clavigo") oder Tschechows "Möwe" verliehen wurde. "Ich kann auf einen Text drauf hauen und er weiß, er wird es überleben", sagte er einmal.
Wie häufig bei intellektuellen Theatermacher tendieren Stemanns Bühnen dazu, kühl und operativ auszusehen. Ein paar Sitzmöbel und technische Geräte zwischen den meist sogar nackten Wänden, mehr gibt es kaum zu sehen. Schauspieler, akustische Effekte, Requisiten und selbst die Kulissen wirken gleichberechtigt und führen ein geheimnisvolles Eigenleben. Mit diesem komplexen, im Umgang mit Medien versierten Zugriff, hat sich Stemann auch als Regisseur zeitgenössischer Stücke empfohlen. Für seine Uraufführung von Albert Ostermaiers "Death Valley Junction" in Hamburg und Sartres "Schmutzige Hände" in Basel wurde er von der einflussreichen Branchen-Zeitschrift "Theater Heute" zum Nachwuchsregisseur 2000 gekürt.
"Wie geht jung sein ohne Rebellion?" lautete die Leitfrage der Aufführungsreihe, mit der Stemann sich an der Hamburger Spielstätte Kampnagel vor einigen Jahren ins Gespräch gebracht hatte. Aus seiner Erfahrung mit Lehrern aus der 68er-Generation sagt er, dass diese "einen bestimmten Jugendbegriff gepachtet hatte, der hieß: Autorität angreifen." Aber für seinen eigenen Jahrgang stimmte dieses Denken nicht mehr. Um sich abzusetzen, sei einem vielleicht bald nichts anderes übrig geblieben, als konservativ zu werden. "Das Gute am Theater ist, dass es altmodisch genug ist, um solche Fragen zu stellen", sagt Stemann. Überhaupt liebt er die Bühne dafür, dass man auf ihr ein wenig abseits reflektieren kann. "In hundert Jahren, wenn vielleicht niemand mehr Fußball spielt, wird es immer noch all diese riesigen Stadien geben", sagt Stemann. "Im Theater ist es heute schon so. Man muss einfach guten Fußball spielen in einer Zeit, wo es eigentlich niemanden mehr interessiert."