Theaterprojekt "Odyssee Europa" Die Helden des Potts

Sechs Städte, sechs Uraufführungen und 400 Besucher, die sich das an einem einzigen Wochenende antun: Mit dem Theatermarathon "Odyssee Europa" gelingt der Kulturhauptstadt RUHR.2010 nicht nur ein Kraftakt, sondern auch die Inszenierung einer ganzen Region - als Hort der Gastfreundschaft.

Die Siegesgöttin Nike thront als weißer Engel auf einem Berg von Bauschutt, da geht das Sturmtief Xynthia auf sie nieder. Planen erheben sich, die Göttin muss sich festhalten, und die Regenschirme der Zuschauer klappen um. Regie-Altmeister Roberto Ciulli rennt mit wehenden Haaren durchs Geschehen und bedeutet einem Techniker, er solle die Musik lauter drehen: "Sympathy for the Devil" von den Rolling Stones. Im Park des Mülheimer "Theaters an der Ruhr" spielt sich gerade die letzte Szene von Péter Nádas' "Sirenengesang" ab. Das Ende der Zivilisation - so unmittelbar wie auch ungeplant hat es wohl noch keiner auf die Theaterbühne gebracht.

Der extrem dichte und im besten Sinne verstörende "Sirenengesang" ist einer der Höhepunkte und die fünfte Etappe der "Odyssee Europa", die am vergangenen Wochenende Premiere hatte. Im Rahmen der Kulturhauptstadt RUHR.2010 steuern Essen, Bochum, Oberhausen, Moers, Mülheim und Dortmund jeweils eine Inszenierung für einen wahren Theatermarathon bei. Sechs Uraufführungen innerhalb von zwei Tagen - das ergibt einen überwältigenden Kraftakt, bei dem die Reizüberflutung durchaus eingeplant ist.

Gleichzeitig verbindet das Architektenduo "raumlaborberlin" die Odyssee-Motive des Reisens und der Gastfreundschaft durch eine eigene Meta-Inszenierung: Jedem Theaterbesucher, der von außerhalb kommt, ist ein Gastgeber aus der Region zugeteilt, der ihn chauffiert und sogar die private Tür zur Übernachtung öffnet. Bei diesem Unterfangen dürfte die Türschwelle in manchem Fall einer Hemmschwelle gleichkommen.

Odysseus trifft auf Isaf-Truppe

Die Theater selbst haben hochkarätige Autoren beauftragt, sich der rund 2800 Jahre alten "Odyssee" zu widmen, die einen der Ur-Texte der abendländischen Kultur darstellt. Wie aus einem Steinbruch schöpften sie aus dem antiken Epos. Dabei geht es ihnen weniger um eine chronologische Nacherzählung der Heldenfahrten als um eigenwillige Aktualisierungen.

So erlaubt sich etwa der polnische Dramatiker Grzegorz Jarzyna mit "Areteia" für den Auftakt am Samstagvormittag in Essen eine unverhohlene Umdichtung der Heimkehr nach Ithaka. Er strickt daraus ein Drama des Wiedererkennens. Odysseus' Vater Laertes, seine Frau Penelope und auch sein Sohn Telemach haben den Mann, der nun vor ihnen steht, für tot gehalten. Die Spannung entsteht mit wenigen Worten, aber perfektem Körpereinsatz. Eine Choreografie der Skepsis bestimmt die Bewegungen zueinander, auf die immer wieder das Abstoßen folgt. Zäher Gitarrensound bringt das Misstrauen zum Klingen. Schließlich mündet das Stück in die Frage nach dem Überkommen der Väter und Götter - und findet eine brachiale Antwort: Odysseus erwürgt Laertes und wird daraufhin von seinem Sohn ermordet. Der Autor selbst führt Regie und wird zu Recht mit langem Applaus belohnt.

Vor dem Essener Theater findet sich nun, was vom "raumlaborberlin" zusammengewürfelt wurde. Mit neugieriger Anspannung und großer Höflichkeit treffen die Theatergäste auf ihre Gastgeber und beginnen damit ihre ganz persönliche Odyssee. Die Ruhrpottler zeigen ihren Gästen die Jahrhunderthalle, laden sie zum Essen in ihr Lieblingsrestaurant ein oder stellen sie ihren Verwandten vor. Zwei Stunden später findet sich das entführte Publikum in Bochum wieder ein.

Dort läuft "Der elfte Gesang" vom Deutschen Roland Schimmelpfennig. Er dringt in das Herzstück der Odyssee, die Irrfahrten, vor und schickt das Personal ins Totenreich hinab. Sein Odysseus ist ein abgeschlagener, Kette rauchender "Mann vom Tabak- und Lotto-Laden", der unter anderem einer asiatischen Gemüseverkäuferin und einem Bundeswehrsoldaten der Isaf-Truppen begegnet. Doch diese äußeren Indikatoren sind die einzigen Bezüge zur Jetztzeit. Die Figuren treiben einander mit Homer'schen Versen gegen die Wände eines engen Kubus. Dieses reduzierte Kammerspiel von Lisa Nielebock gerät etwas statisch, so dass im Publikum der ein oder andere Kopf in einen Sekundenschlaf sackt, was dem späteren Applaus jedoch keinen Abbruch tut.

Butterfahrt mit Sauerkraut

Über den Rhein-Herne-Kanal reist das Publikum am Samstagabend Richtung Oberhausen. An Bord der "Santa Monika" gibt es Kasseler mit Sauerkraut. Ein Pressevertreter streitet sich mit einem Ruhrpottler darüber, ob man sich nun auf einer kulturellen Butterfahrt befände. Aber genau das ist es nicht, sondern ein äußerst gelungenes, wuchtiges Theaterspektakel, das sich die Dichte der Region zunutze macht. Keines der Stücke enttäuscht. Die Bandbreite erschlägt beinahe, und der Facettenreichtum wird von Stück zu Stück deutlicher.

Am Abend bietet "Penelope" des irischen Autors Enda Walsh den komischen Höhepunkt des Wochenendes. Das Publikum ist bei bester Laune, muss sich teilweise aber schon mehrfach vergewissern, wo es sich inzwischen überhaupt befindet: In Oberhausen, beziehungsweise am Rand eines leeren Swimmingpools, in dem Penelopes Freier vor sich hin vegetieren, als Penner in ebenso bunten wie knappen Unterhosen. Mit absurdesten Liebesbeweisen werben sie um ihre Gunst und fürchten Odysseus' Heimkehr. Die Inszenierung von Tilman Knabe kippt trotz der Albernheiten an keiner Stelle ins Lächerliche, sondern weiß seinen zum Scheitern verurteilten Figuren mal etwas Rührendes, mal etwas Philosophisches abzugewinnen.

Am Ende des ersten Tages nehmen die Gastgeber die Besucher wieder in ihre Obhut, und spätestens jetzt dürfte sich jedem die Idee des individuellen "Bed and Breakfast" erschließen. Es geht nicht um die Umsetzung eines Kulturfests mit finanzieller Not, sondern um ein tieferes Entdecken einer Region und seiner Menschen.

Wer nach der kurzen Nacht am Sonntagmorgen noch etwas verschlafen ist, wird spätestens in Moers wachgerüttelt. Regisseur Ulrich Greb jagt Publikum und Ensemble durch eine alte Tennishalle, die dem Schlosstheater Moers als Nebenspielstätte dient, und erweckt so das Integrationsdrama "Perikizi" der deutsch-türkischen Autorin Emine Sevgi Özdamar zum Leben. Die Halle beinhaltet eine Kirche, von wo es in ein Flüchtlingslager geht und schließlich durch ein Loch in einer Wand ins "Offene". All die Ortswechsel helfen aber nicht darüber hinweg, dass das Stück mit sämtlichen Schlagwörtern der Kopftuch-rauf-Kopftuch-runter-Debatte nur so um sich wirft.

Schlechtes Gewissen in Unterhosen

Zu einem großen Gastmahl treffen am Nachmittag alle 400 Zuschauer in der ehemaligen Wartungshalle der Dortmunder Straßenbahn zusammen. An hundert Meter langen Tafeln diskutieren sie die bisher gesehenen Stücke, bevor die mit Megafon ausgestatten Helfer sie weiter Richtung U-Bahn treiben. Letzte Station: Schauspiel Dortmund.

Acht Männer mit weiß geschminkten Körpern sitzen in Unterhosen am linken Bühnenrand, mit dem Rücken zum Publikum. Wenn Odysseus eine gespaltene Persönlichkeit hat, dann sind sie dessen Splitter - die wiederkehrende Schuld, die er auf sich geladen hat. Sie zischen seine Schandtaten chorisch vor sich hin, besingen sein Versagen. Auch in Christoph Ransmayrs "Odysseus, Verbrecher" bildet die Rückkehr in die Heimat den Handlungsrahmen.

Jedoch ist der Schlusspunkt nicht gleich der Höhepunkt der vergangenen zwei Tage. Das liegt weder an dem sprachgewaltigen Text des österreichischen Schriftstellers, noch an der soliden Inszenierung von Michael Gruner, sondern eher daran, dass die Schuldthematik sich langsam erschöpft. Schuld bei Nádas, Schuld in Bochum, Schuld in Ithaka, Schuld des Vergessens, Schuld der Väter. Schuld ist natürlich auch deutsch.

Dass die Odyssee sich nach dem Ende dieses rundum gelungenen Theaterspektakels fortsetzt, daran jedenfalls ist nur das Wetter Schuld. Xynthia hat den Fernverkehr der Bahn lahmgelegt. Selbst das nimmt man jetzt so selbstverständlich hin, als gehöre es zur Inszenierung. Die Reisenden verharren auf dem Bahnhof Dortmund, bis Zeus um Mitternacht den Verkehr wieder freigibt.


"Odyssee Europa", nächste Termine: 06./07.03. und 13./14.03.2010. Karten: (0)180 515 2010.

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