Tiefrot und beerenstark Wilder Erdbeermund
Wenn Klaus Kinskis hormongetriebene Rezitation des Mädcheneroberungsgedichts "Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund" verklungen ist, wenn Mickey Rourke nach neuneinhalb Wochen genug Erdbeeren und Basingers vernascht hat, wenn Richard Gere und seine Pretty Woman endlich ihre Früchte aus dem Champagnerglas gefummelt haben, wenn also jenseits von Dichtungskraft und Hollywoodkitsch wieder etwas Ruhe in unsere Sensorik gekommen ist und wir voller Vorfreude endlich selbst in eine knallrote und vollreife, frische deutsche Erdbeere beißen dann, tja nun, dann schmeckt es meist doch wieder nur nach einem dünnzuckrigen, leicht fruchtigen Wasser.
Die gemeine Gartenerdbeere, seit Jahrhunderten nicht nur in Westeuropa eine Festung in der Brandung der Dessertmoden, bringt es schon lange nicht mehr. Zumindest für die Hochgastronomie samt ihrer feinschmeckermäuligen Klientel. Nicht umsonst kamen Ende der achtziger Jahre die ersten Sterneköche auf die Idee, Erdbeeren mit Zutaten zu kombinieren, die bis dato auf dem Pâtissière-Posten nicht gerade zur Mise en place gehörten: Basilikum, grüner Pfeffer, Balsamico-Essig, Salzflakes allesamt untrügliche Zeichen dafür, dass die einst ganz klar dem Süßkram zugeordnete Frucht (im Gegensatz zu der noch immer von Gourmets geschätzten kleinen wilden Walderdbeere) auf ihrem langen Weg von der Mai/Juni-Delikatesse aus rein regionaler Ernte zur ganzjährig verfügbaren Massenhandelsware ihre Kernkompetenz verloren hat. Sie mag mit 62 Milligramm pro 100 Gramm noch immer mehr Vitamin C als Zitronen enthalten. Aber sie schmeckt einfach nicht mehr.
Und damit teilt sie das traurige Schicksal etlicher Spezialitäten, deren Genuss einst teuer erkauft werden musste, die aber längst überall und jederzeit für ein paar Aldilidlpennys zu haben sind: Lachs, Kaviar, Krustentiere, Schweinelende, Wachteln erinnert sich überhaupt noch jemand, wie gut das alles einmal geschmeckt hat? Erdbeeren am ersten Weihnachtsfeiertag, das taugt nicht nur als Ikone der Perversion des globalisierten ernährungsindustriellen Komplexes. Die ständige Verfügbarkeit fast aller Nahrungsmittel jenseits der natürlichen Ernteperioden zu Discountpreisen muss langfristig auf die Qualität unseres Essens drücken, damit es sich rechnet für die Großbauern und Handelsriesen. Da ist die Erdbeere nur ein aktuelles, wenngleich besonders trauriges Beispiel.
Selbst wer sich aus ökologischen, prinzipiellen oder feinschmeckerlichen Gründen daran hält, Obst und Gemüse möglichst nur zur jeweiligen regionalen Erntezeit von lokalen Herstellern zu kaufen, wird zumindest bei der Erdbeere dafür oft nicht belohnt. Von den einstmals über tausend in unseren Breiten angebauten Sorten sind fast nur noch die etwas längliche, sehr wechselhaft schmeckende "Florence" und die prall aussehende, aber fast immer wässrige "Elsanta" im Handel.
Letztere liegt inzwischen in mehr als 80 Prozent aller Supermarkterdbeerkörbchen. Natürlich nicht, weil sie Geschmacksweltmeisterschaften gewinnt. Die "Elsanta" eroberte den Beerenmarkt, weil sie in den für die Erzeuger wichtigen Kriterien punktet: Ertrag, industrielle Anbaumöglichkeit, Resistenz gegen Pilzbefall, Lager- und Transportfähigkeit. Ach ja, dafür schmeckt sie sogar noch ein bisschen nach Erdbeere. Aber nicht so intensiv wie der Erdbeerjoghurt aus dem Kühlregal, dessen zum Teil aus Sägespänen synthetisierten "naturidentische Aromen" mit echten Früchten so viel zu tun haben wie das Duracell-Häschen mit dem gemeinen Feldhasen.
Zum Glück sind viele aus der Handelsmode gekommene Erdbeersorten nicht ausgestorben, sondern erfreuen sich unter Hobbygärtnern, Biobauern und Slow Foodlern wachsender Beliebtheit. Wer irgendwo ein paar Quadratmeter Boden harken kann und den Unterschied zur Elasanta-Verarsche in voller Pracht schmecken will, sollte sich ein paar Pflanzen von der Sorte "Mieze Schindler" besorgen (z.B. bei Dinses Culinarium www.dinsesculinarium.de/saisonales/index.html ). Das ist die einzige Zuchtsorte, die geschmacklich der Waldbeere Paroli bieten kann und bei der alle echten Erdbeermünder wirklich wild werden.
Im nachfolgenden (Molekular)-Rezept macht aber sogar die einfache Fragaria Xananassa (an der Seite ihrer Lieblingsspielkameraden Waldmeister und Rhabarber) eine gute Gourmetfigur als rote Grütze, marinierte Würfel, sahnig-weiches Espesante und als Gummiwalderdbeerchen.
Rezept für dekonstruierte Erdbeeren, Rhabarber, Waldmeister (Dessert für 4 Personen)
Zubereitungszeit: 1,5 Stunden (plus 5 Stunden Gelierzeit)
Schwierigkeitsgrad: schwer
Zutaten: 300 g vollreife große deutsche Erdbeeren, 16 sehr feste, gleich große, frische Walderdbeeren, 100 g frische, etwas weichere Walderdbeeren, 6 große Stangen Rhabarber, 2 Sträußchen frischer Waldmeister, 100 ml sehr trockener Weißwein mit viel Säure, 250 ml Sahne, 3 ganze Sternanis, 100 ml Walderdbeerlikör, 4 El brauner Rohrzucker, Puderzucker, 5 g Guarkernmehl (aus dem Reformhaus). 1,2 g Xanthan, 1,8 g Kappa, 6 g Gellan, 3 g Lecithe (Texturas von Ferran Adria, beziehbar auch in kleinen Mengen z.B. über Gradert oder bosfood ). Texturas müssen mit Feinstwaage exakt ausgewogen werden. Sie sind größtenteils auf rein pflanzlicher Basis hergestellt und somit eine gute Gelier-Alternative für Vegetarier, die keine tierische Gelatine einsetzen wollen.
Zubereitung: Vom Waldmeister vier schöne Zweigspitzen für die Deko beiseite legen, vom Rest die Blätter abzupfen, 4 Stunden im zimmerwarmen Weißwein ziehen lassen.
Erdbeer-Quader: Die 12 größten Erdbeeren mit Hilfe eines rechteckigen Ausstechers in exakte Würfelform schneiden. Würfel mit etwas Likör beträufeln, 2 Tl Puderzucker darauf sieben, im Kühlschrank 4 Stunden ziehen lassen. Abschnitte der Erdbeeren für das Espesante benutzen.
Erdbeer-Espesante: Erdbeerabschnitte, die Hälfte der weichen Walderdbeeren, 200 ml Sahne und 1 El Puderzucker mit Schneidstab oder im Mixer sehr lange pürieren, durch ein Haarsieb ziehen. Xanthan und Guarkernmehl mit Handrührgerät so lange einrühren, bis die Masse fester wird. Espesante in rechteckige, mit Klarsichtfolie ausgelegte Form streichen, 4 Stunden im Kühlschrank fest werden lassen.
Rote Grütze: Reste und Abschnitte des Rhabarbers (siehe unten) klein schneiden, restliche Erdbeeren in ca. 5 mm kleine Stücke schneiden, zusammen mit den restlichen Walderdbeeren möglichst lose in eine mit Klarsichtfolie ausgelegte rechteckige Form schichten es sollte noch viel Luft zwischen den Obststücken bleiben. 300 ml des Rhabarberkochwassers (siehe unten) durch Kaffeefilter schütten, 250 ml abmessen, mit dem Gellan aufmixen, kurz aufkochen, auf ca. 70 Grad abkühlen lassen, langsam über das Obst gießen, dabei immer wieder schwenken, um alle Luftblasen auszufüllen. Im Kühlschrank 4 Stunden gelieren lassen.
Walderdbeergelificationen: 16 Waldbeeren auf Backpapier gleichmäßig (4 x 4 in Reihen) auflegen. 2 g Kappa in den Walderdbeerlikör einmixen, auf ca. 85 Grad erwärmen (mit Bratthermometer kontrollieren). Jetzt so schnell wie möglich jede Erdbeere mit einem Mokkalöffel der zähen Flüssigkeit übergießen die Masse geliert in wenigen Sekunden! Nach dem Gelieren die Gummiwalderdbeerchen ablösen, auf Teller kalt stellen.
Rhabarber-Rechtecke: Rhabarberstangen in exakt 10 cm lange Stücke schneiden, Reste aufheben. Auf einer Aufschnittmaschine längs in ca. 2 mm dünne Scheiben schneiden. 1 l Wasser mit dem Rohrzucker und dem Sternanis aufkochen, 10 min kochen lassen, alle Rhabarber-Teile (incl. der Abschnitte, aber ohne die Blätter) in 4-5 Portionen nach und nach jeweils 45 Sekunden blanchieren, im Eiswasser abschrecken. Die gleichmäßigsten Scheiben auf den Tellern mittig zu ca. 10 x 6 cm großen Rechtecken anrichten. Restlichen Rhabarber für die Grütze benutzen.
Waldmeisterluft: Den Waldmeistersud abseihen, mit 2 Tl Puderzucker, 50 ml Sahne und 6 g Lecithe mit dem Sahneaufsatz des Schneidstabes aufschlagen, immer an der Oberfläche arbeiten, bis ein feiner Schaum entsteht. Nach 3 min Ruhezeit hat sich der Schaum so stabilisiert, dass er mit einem Löffel an die Seiten der Rhabarber-Rechtecke angelegt werden kann (und evtl. weitere Waldmeister-Luft nachgeschlagen werden kann). Rasch arbeiten, denn der Schaum hält sich max. 15 Minuten.
Anrichten: Espesante auf Schneidebrett stürzen, vier Rechtecke von ca. 3 x 8 cm schneiden und mittig auf dem Rhabarber platzieren, Waldmeisterzweigchen einstecken. Grütze stürzen und vier Rechtecke von je ca. 3 x 10 cm schneiden, längs neben dem Rhabarber anlegen. Gegenüber die Gummiwalderdbärchen gleichmäßig anlegen. Je 3 Erdbeerwürfel dazu stellen (verspielte Geister panieren einen der drei Würfel in Silbermetallic-Lebensmittelfarbe wie Candurin Silver Sparkle (www.gourmet-versand.eu) . Evtl. noch etwas mehr Waldmeisterluft dazugeben. Wenn von dem Balsamico-Eis noch ein Rest übrig ist, macht sich ein Würfel davon gut auf dem Teller (im Foto links).
Küchen-Klang: Die 7-CD-Box von Radiohead ist vielleicht etwas zu schwer verdaulich, deshalb in der Küche besser mit der aktuellen "Best Of" (Parlophone/EMI) kurz in die Tiefen des britischen Artrock-Kollektivs tauchen. Schöne Alternativen dazu: der wieder zum knackigen Rock bekehrte Ösi-Weltmusiker Hubert von Goisern mit "S'Nix" (Lawine/ SonyBMG) und die wundersam-zerbrechlichen Liebeslieder des Erfurter Schlautexters Clueso beides ideale Soundtracks, um den Beeren bei Gelieren zuzusehen.
Getränketipp: Da sich das Dessert in Sachen Süße vornehm zurückhält, muss auch der Dessertwein keine marmeladige Wuchtbrumme sein. Das Säure/Süße-Spiel der Beerenvariationen greift hervorragend der 2007 Muscat de Rivesaltes von der Domaine Laporte (z.B. bei Rindchen www.rindchen.de ) aus dem Languedoc-Roussillon auf. Im Sommer darf dieser natursüße Muscat gern auch bei knackigen acht Grad serviert werden.