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Zentrum für Politische Schönheit Mit Tigern gegen Gesetze

Aus Protest gegen eine EU-Beförderungsrichtlinie droht das Zentrum für Politische Schönheit, mitten in Berlin Flüchtlinge Tigern zum Fraß vorzuwerfen. Eine syrische Schauspielerin stellte sich nun als Freiwillige vor.

May Skaf steht auf der Bühne des Maxim-Gorki-Theaters und kämpft mit den Tränen. In Europa erhoffte sich die syrische Schauspielerin eine bessere Welt für alle Betroffenen des Bürgerkriegs. Doch sie wurde enttäuscht. Nun ist sie bereit, sich vier Tigern zum Fraß vorzuwerfen.

"Mit Gesetzen zu töten ist das Werk von Feiglingen", sagt Skaf bei ihrem Auftritt und adressiert damit die Europäische Union. Ihr geht es um eine Richtlinie, die es Beförderungsunternehmen verbietet, Menschen ohne Einreiseerlaubnis in ein anderes Land zu bringen. Nur diese Richtlinie zwinge die Flüchtlinge zur gefährlichen Überfahrt über das Mittelmeer. "Wenn man nicht den Bomben des Regimes zum Opfer fällt, dann dem Meer", so Skaf.

Der Auftritt der syrischen Schauspielerin ist Teil der Berliner Kunstaktion "Flüchtlinge fressen", die das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) ins Leben gerufen hat. Die Künstlergruppe will Flüchtlingen eine sichere Einreise nach Deutschland ermöglichen - und den Weg über das Mittelmeer damit dauerhaft vermeiden.

Als Auftakt einer neuen Flüchtlingspolitik soll daher in der kommenden Woche ein Flugzeug mit 100 Flüchtlingen von Izmir (Türkei) nach Berlin fliegen. Die Kosten belaufen sich auf 80.000 Euro, rund die Hälfte konnte die Gruppe bereits über Fördermitglieder eintreiben. Mehr Geld bedeutet mehr Tickets für die Flüchtlinge - derzeit reicht die Summe für 52 Personen. Welche Flüchtlinge in den Flieger dürfen, wird durch eine Abstimmung entschieden - ein Casting, bei dem Flüchtlingsfamilien in Bewerbungsvideos mit ihrem persönlichen Leid um Stimmen bitten. 

Die EU-Richtlinie zur Beförderung von Flüchtlingen verbietet einen solchen Flug, seit 15 Jahren ist sie in Kraft. Um den Flug dennoch durchzusetzen, hat das ZPS am Donnerstag eine drastische Drohkulisse aufgebaut: Vier Tiger laufen nun durch eine große Arena, als ihre Nahrungsvorlieben werden Freiheit und Würde genannt. Unter dem Motto "Not und Spiele" soll es hier zum "Flüchtlinge fressen" kommen, sollte der Flieger Izmir in der kommenden Woche ohne die Flüchtlinge verlassen.

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Zentrum für politische Schönheit: Eine Schauspielerin und die Tiger

Foto: Rainer Jensen/ dpa

Wie die Gladiatorenkämpfe im alten Rom

"Für uns ist es nicht vermittelbar, dass Flüchtlinge keine Flugzeuge betreten dürfen und stattdessen Zehntausende Euros für Schlepper ausgeben", sagt Philipp Ruch, Sprecher des ZPS. Für überzogen hält er die makaber anmutende Aktion nicht: "Überzogen ist nur die Realität, in der die Türkei die Drecksarbeit für die EU übernimmt."

Die Aktion vor dem Maxim-Gorki-Theater ist nicht das erste umstrittene Projekt des Zentrums für Politische Schönheit. In der Vergangenheit hatte die Künstlerinitiative wiederholt mit radikalen Aktionen für Aufmerksamkeit gesorgt, etwa mit dem vorübergehenden Diebstahl von Gedenkkreuzen für Berliner Mauertote. Mit der Tiger-Arena wollen sie an Gladiatorenkämpfe im alten Rom erinnern und an ein Europa der Barbarei.

Dem Protest hätten sich bereits sieben Flüchtlinge freiwillig angeschlossen, sagt Ruch. Alle seien bereit, sich von den Tigern fressen zu lassen. May Skaft ist die Einzige von ihnen, die am Dienstag der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Bei ihrem emotionalen Auftritt blickte sie bereits dem Ende entgegen: "Ich habe nichts zu verlieren, denn ich habe schon alles verloren."

May Skaf auf der Bühne des Gorki-Theaters

May Skaf auf der Bühne des Gorki-Theaters

Foto: Jens Kalaene/ dpa

Die Drohkulisse steht bereit, die nächsten Schritte erwarten die Künstler nun von der Politik: Bei einer Fragestunde im Bundestag soll, so Ruch, die Bundesregierung nun Stellung beziehen, ob der Flug von Izmir nach Berlin möglich ist. Am Freitag wird dann der Bundestag über einen Antrag beraten, in dem die Linke eine Anpassung des entsprechenden Gesetzes und ein entsprechendes Engagement der deutschen Politik auf europäischer Ebene fordert. "Es kommt nun alles darauf an, ob die SPD-Abgeordneten für die Streichung dieses Paragrafen stimmen. Wenn das Motto der Solidarität noch gilt, erwarten wir nichts anderes als eine sofortige Abschaffung", so Ruch.

Selbst für diesen unwahrscheinlichen Fall ist aber klar, dass die Bundestagssitzung am Freitag keine neuen Tatsachen schaffen wird - das neue Gesetz müsste erst ausgearbeitet werden. Daher steuert das ZPS direkt auf den nächsten Termin seiner Inszenierung in acht Tagen zu.

Bis zum derzeitigen Punkt jedenfalls ist die großangelegte und aufwendige Kunstaktion eine mit großer Ernsthaftigkeit durchgeführte Inszenierung. Jeden Abend finden in diesen Tagen Salons statt, sowohl der Berliner Kulturbetrieb als auch Politiker der Oppositionsparteien nehmen daran teil. Die Diskussion ist entfacht - das jedenfalls ist der Erfolg der grenzwertigen Aktion.

May Skaf hat dabei am Dienstag auf emotionale Art eine entscheidende Rolle gespielt, nach dem Auftritt der Schauspielerin standen auch einigen Zuschauern im Saal des Maxim-Gorki-Theaters die Tränen in den Augen. Die Schauspielerin saß bereits mehrfach in syrischen Gefängnissen. In der arabischen Welt sei sie einem Millionenpublikum bekannt, sagte sie auf der Theaterbühne. In ihrer Heimat ist sie ein Symbol des Aufstands, in einer Fernsehserie spielte sie eine starke Frau, die Demonstrationen leitete. Auch ihre Gefängnisaufenthalte thematisierte sie mehrfach.

Ruch und seine Mitstreiter haben die Latte mit der gesamten Aktion und der Wahl der Assad-Kritikern Skaf hoch gelegt - und zwar für sich selbst. Die Beeinflussung des Publikums ist die eine Aufgabe - die Beeinflussung von Politikern eine ganz andere. Diese reagierten bisher sehr unterschiedlich: Während das Bundesinnenministerium die Kunstaktion als "zynisch" beschrieb, reagierte Berlins Kultur-Staatssekretär Tim Renner (SPD) gelassen: "Die Aufgabe von Kunst ist nicht, bequem zu sein."

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