
"Tod eines Handlungsreisenden": Das Ende des American Dream
Theaterklassiker in Hamburg Hier stirbt ein Abgehängter
Pingpong: Ein scheinbar harmloses Spiel des Hin und Her, endlos, wenn man will. Die beiden Söhne des Handlungsreisenden Willy Loman, Biff und Happy, spielen es offenbar unermüdlich. Als das Publikum langsam ins Hamburger Thalia Theater tröpfelt, haben sie schon mit ihrem Tischtennis-Workout auf der Bühne begonnen, und sie spielen bis zur Erschöpfung. Biff klappt denn auch mit hartem Aufschlag seines Kopfes auf der Platte zusammen. Es wird nicht der letzte Zusammenbruch des Abends bleiben.
Das traurige Drama vom Abstieg und Tod des American-Dream-gläubigen Handelsvertreters Willy Loman war 1949 Arthur Millers (1915-2005) größter Wurf als Autor, hochberühmte Darsteller von Dustin Hoffman bis Heinz Rühmann und in der Uraufführung am Broadway Lee J. Cobb spielten den Verlierer hingebungsvoll und anrührend.
Noch immer reizt die zwiespältige Figur Schauspieler wie Regisseure zu Deutungen, und einmal wieder böte sich die Thematik des Stückes als bissiger Kommentar auf Zeitgeist und Politik an. In diese gefährliche Aktualitätsfalle möchte der Regisseur des Abends, Sebastian Nübling, keinesfalls tappen. Alles, was auch nur entfernt an Ver.di-Demo, Talkshow und visuell an gesellschaftlichen Umbruch erinnern könnte, findet zunächst nicht statt.
Die große Leere im kleinen Willy Loman

"Tod eines Handlungsreisenden": Das Ende des American Dream
Die große, weite Bühne (spartanisch, aber effizient von Evi Bauer gestaltet) versinnbildlicht so nur die große Leere im kleinen Mann Willy Loman, der seinen Stolz und seinen Job Stück für Stück los wird und nur noch in seiner Traumwelt überleben kann. Der beliebte, unverzichtbare Außendienstler wird einsam, weil er nicht mehr beliebt genug ist, seine Witze nicht mehr zünden, der Umsatz nicht stimmt. Nübling konzentriert sich auf das persönliche Loman-Drama und das seiner Familie: So viel Werktreue mutet heute fast gewagt und exotisch an.
Den Willy Loman lässt er vom eigenwilligen Kristof Van Boven spielen, der am Thalia so etwas wie ein Spezialist für Neuvermessungen von scheinbar bekannten Charakteren geworden ist. Van Boven spielte die Eliza im "Pygmalion" und den Mackie Messer in der "Dreigroschenoper", und jedesmal verpasste der gebürtige Belgier den Figuren ein völlig neues, oft verstörendes Profil. Sein Willy Loman, den er in eng eingeschnürtem Sportblouson meist verhechelt und atemlos darstellt (Kostüme mit Witz und Akzenten: Amit Epstein), kontrastiert komplett mit der Bühnen-Leere. Allein für diese Einzelleistung mit autistisch anmutenden Eruptionen lohnt der Abend.
Höllenfahrt und scheiternde Träume
Willys Söhne, der simple aber gut geerdete Happy (Rafael Stachowiak) mit kleinem Job und kleinen Idealen und der ältere, stets scheiternde Biff (zerquält und intensiv: Sebastian Rudolph), umkreisen ihn wie Satelliten. Während Happy das Schicksal des Vaters akzeptiert hat und nur noch mit den Schultern zuckt, kämpft Biff immer wieder um die Liebe des Vaters.
Doch er ist in seinem kontinuierlichen Scheitern mit allen seinen Träumen und Projekten längst zu einem Spiegelbild seines Erzeugers geworden. Der will das nicht wahrhaben, die Streitszenen zwischen Willy und Biff, mit wachsendem Showdown-Charakter, bieten Sebastian Rudolph und Kristian Van Boven alle Gelegenheit, sich darstellerisch an die Kehle zu gehen. Wo die Liebe zu stark wird, ist der Hass nicht weit.
Pole Dancing als Zentrum
Biffs stürzender Charakter wird mit heftigen Tattoos im Gesicht und auf den Armen etwas platt illustriert, aber Rudolphs beißendes Spiel trösten über diesen leichten Optik-Fehltritt hinweg. Souverän ist auch der Einbau der stets etwas heiklen Rückblenden im Stück, nicht zuletzt durch die schlaue Einbindung einer übergroßen Pole-Dancing-Stange, die zum Fixpunkt der Handlung wird. Willy Lomans Seitensprung-Bekanntschaft turnt daran (artistisch und offensiv: Alicia Aumüller), und sein fürsorlicher Freund Charley (Tim Porath) putzt sie als Trainer und selbstloser Helfer für Willy. An ihr windet sich auch Biff, als er seinen Vater als Betrüger der Mutter enttarnt.
Mit diesen einfachen, aber effizienten Bildern und Bauten fordert die Regie vom Zuschauer, sich selbst die Bilder zeitgenössischer Probleme hinzuzufügen. Dass hier im Willy Loman ein Abgehängter stirbt, muss nicht dramatisch unterstrichen werden.
Der Zuschauer wird gefordert
Wie ein wirbelnder Handlungsmotor lässt Regisseur Nübling hierzu Willy Lomans unermüdlich solidarische und verzweifelt liebende Ehefrau Linda agieren (manisch bis zerbrechlich: Marina Galic), deren rasende gespielte Großherzigkeit und Einsicht in das zerstörte Leben ihres Gatten wie dramaturgische Stützpfeiler der Inszenierung wirken. Kettenrauchend und mit bunten Socken plus quietschgelben Turnschuhen zu rotem Kleid wirkt auch sie wie der verkörperte, verblassende Jugendtraum aus einer untergegangenen Welt. Ein weiterer Traum, der nur als seine eigene Erinnerung lebt.
Lediglich einmal bricht die beinharte digitale Neuzeit in die Handlung ein, als sich Willy bei seinem Firmenboss Howard einen weniger stressigen Job erbetteln will. Howard (cool und brutal: noch mal Alicia Aumüller) empfängt ihn mit einer topmodischen Virtual-Reality-Brille und lässt ihn kalt abblitzen.
Die einzige Aktualität in einer Inszenierung, die bewusst auf Zeitlosigkeit setzt und damit verblüffend punktgenau landet. Sehr freundlicher Premieren-Beifall mit ein paar Buhs. Aber das lernte schon Willy Loman: Man kann nicht bei allen beliebt sein.
"Tod eines Handlungsreisenden": Weitere Vorstellungen im Thaila Theater gibt es am 26.11., 1.12., 2.12., 12.12. und 2.1.