
Tschechow-Premiere: Destruktiv ist attraktiv
Tschechow-Premiere in Zürich Eremit werden oder sich umbringen
Melancholisch, zynisch, schwach - das sind so die Attribute, die der von Anton Tschechow erfundene Dorflehrer Platonow häufig abbekommt. Dahinter steckt nach Ansicht von Thomas Jonigk aber etwas anderes: ",Platonow' ist das phantastische Porträt einer depressiven Figur", sagt der Dramaturg am Schauspielhaus Zürich. Womit es ein Stück auf der Höhe der Zeit ist.
Jonigk, 45, hat gemeinsam mit der Zürcher Intendantin und Regisseurin Barbara Frey, 47, eine Neufassung des Tschechowschen Jugendwerks erarbeitet, das der russische Dichter zwischen 1877 und 1881 schrieb und mehrmals umbenannte (u.a. "Die Vaterlosen", "Armer Don Juan"). Zu einer Neufassung ist jeder gezwungen, der das Stück aufführen will, denn mit mehr als sieben Stunden Dauer ist es ungekürzt schwer spielbar. Allzu viel passiert in den sieben Stunden auch gar nicht: Der "Platonow" ist tschechow-typisch handlungsarm, weil der Dichter eine "Enzyklopädie des russischen Lebens" schaffen wollte, mit dem er seinen Mitmenschen vor allem eine Erkenntnis nahe zu bringen versuchte: "Schaut, wie schlecht und langweilig ihr lebt!"
Das tun die Menschen in dem Stück ausgiebig, aber niemand erkennt dies und verzweifelt daran so deutlich wie Platonow, der Dorflehrer. Schon das erhebt ihn über die anderen und macht ihn zur bewunderten Lichtgestalt, vor allem bei den Frauen des Dorfes.
Roh, unmäßig, wild
Der Dramaturg Jonigk schätzt gerade die Länge des Stückes, weil er als Dramaturg bei der Szenenauswahl eigene Akzente setzen kann. "Das Durchpflügen dieses Textes bringt Spaß", sagt er, ",Platonow' ist ein unglaublich reiches Stück, ein Fundus für alle seine späteren, aber viel roher, unmäßiger, wilder." Bei rund drei Stunden Spieldauer sind die Regisseurin Frey und ihr Ensemble angelangt.
Frey gilt als hervorragende Ensembleregisseurin, und Tschechow hat mit den Figuren in diesem Stück wunderbare Charaktere entworfen, allesamt depressiv und unglücklich, nach bester russischer Manier jeder auf seine Weise. Was aber macht Platonow für die anderen (und die Zuschauer) so attraktiv? "Er hat einfach mehr Energie als die anderen, auch wenn sie destruktiv ist", erläutert Jonigk. "Er hält es zum Beispiel aus, nicht gemocht zu werden. Auch dazu gehört Kraft. Und unter all den Depressiven ist Platonow derjenige, der sich am meisten aufbäumt. Erkenntnistheoretisch ist er weiter - aber auch ihm fehlt der Mut zur Konsequenz." Die könne eigentlich nur heißen, "Eremit werden oder sich umbringen", sagt der Dramaturg. "Oder eine Therapie beginnen, aber das ist zu pragmatisch."
Man darf sich den Zürcher Platonow also nicht als Ekel vorstellen - schon deshalb nicht, weil ihn Michael Maertens spielt, ein Theaterstar nicht nur in Zürich und eigentlich zu vital, zu gesund in der Ausstrahlung für den Melancholiker Platonow. Maertens passt mit seiner Agilität auch perfekt in das Konzept von Regisseurin Frey, die eine Meisterin darin ist, Tschechow (wie etwa bei ihrem grandiosen "Onkel Wanja" 2003 in München) von Melodramatik, Schwulst und Kitsch fernzuhalten. Und die Komik im Traurigen zu entdecken.
Depression ist schließlich so etwas wie die Berufskrankheit der Komödianten.
Platonow. Premiere im Zürcher Schauspielhaus (Pfauen) am 1.4. Auch am 3. (nachmittags), 6., 12., 13., 18. und 30.4., Tel. 0041/44/258 77 77.