Antisemitismus-Streit "Der Jude" und die Mitte der Gesellschaft

Kann die Formulierung "Der Jude" antisemitisch sein? Eine Auseinandersetzung des New Yorker Autors Tuvia Tenenbom mit "Süddeutscher Zeitung" und dem Rowohlt Verlag zeigt: Selbst die liberale deutsche Öffentlichkeit ist nicht davor gefeit, in vorbelastete Sprachmuster zurückzufallen.

Der Autor Tuvia Tenenbom ist aus New York nach Deutschland gekommen, um mit dem Suhrkamp-Verlag an seinem neuen Buch zu arbeiten. Doch wenn man ihn trifft, wird klar, dass ihn eigentlich etwas anderes umtreibt: "Niemals in meinen ganzen Leben werde ich akzeptieren, dass jemand mich 'Der Jude Tenenbom' oder einen 'jüdischen Hysteriker' nennt." Tenenbom, Abkömmling einer Familie mit zahlreichen Holocaustopfern, fühlt sich herabgesetzt und beleidigt. Er fragt: "Was ist das für ein Land, in dem man jemanden 'Der Jude Tenenbom' oder einen 'jüdischen Hysteriker' nennen kann, ohne dass dies der Öffentlichkeit auffällt?"

Was war passiert? Am 30. Juli 2012 veröffentlichte die "Süddeutsche Zeitung" einen Artikel über Tenenbom. Darin griff sie die äußert ungewöhnlichen Umstände auf, die das Buchprojekt des Theatermachers und Journalisten Tenenbom bis dato begleitet hatten. Rowohlt hatte es für den April 2011 als Taschenbuch-Spitzentitel angekündigt. Doch das Sachbuch, es sollte "Ich bin Deutschland" heißen, ist dort nie erschienen. Stattdessen will es Rowohlts Konkurrent Suhrkamp nun im Dezember 2012 veröffentlichen, unter dem Titel "Allein in Deutschland."

Angelegt ist es als eine große Deutschlandreportage: Tenenbom traf Helmut Schmidt und Helge Schneider, den sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich, Volkhard Knigge, den Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchwald. Aber auch deutlich weniger namhafte Protagonisten des bundesdeutschen Alltags, bis hin zum Wirt des berüchtigten Neonazi-Treffs Club 88 in Neumünster.

"Jüdischer Hysteriker"

Der E-Mail-Verkehr und Briefwechsel zwischen Tenenbom und Rowohlt-Verleger Alexander Fest liegt SPIEGEL ONLINE vor, er zeugt von einer schnell wachsenden Entfremdung zwischen Autor und Verlag. Einerseits ging es um die Frage, ob Tenenbom die Aussagen seiner Gesprächspartner nach deutschem Zitatrecht protokolliert und freigeben hat lassen. Andererseits um die Einschätzung der Publikation überhaupt. In einem Verlags-Gutachten, dessen Verfasserin anonym bleiben möchte, findet sich die Formulierung "Tuvia (...) ist offenkundig ein jüdischer Hysteriker, wie ihrer aller Schutzheiliger Woody Allen." Rowohlt-Chef Fest sagt dazu, die Formulierung sei im Zusammenhang des Gutachtens als Kompliment gemeint gewesen.

In der "Süddeutschen Zeitung" stellte  der Journalist Malte Herwig den Streit dar. Den Autor und sein Buch charakterisierte er wie folgt: "Der Jude Tenenbom traf so ziemlich alles, was Deutschland an schrägem Personal zu bieten hat: Autonome, Neonazis, Fußballfans, Juden, Christen und Türken und Kai Diekmann."

Darauf angesprochen, sagte Herwig SPIEGEL ONLINE: "Was soll daran 'herabsetzend' oder 'beleidigend' sein, den Sohn eines Rabbiners als Juden zu bezeichnen? Der Erzähler Tenenbom tritt in seinem Buch ja explizit als Jude auf, der seine Begegnungen mit Christen, Muslimen und Juden in Deutschland beschreibt und dabei über seine jüdische Identität und die Reaktionen seiner Gesprächspartner schreibt." Andrian Kreye, Feuilletonchef der "Süddeutschen Zeitung", pflichtet seinem Autor bei: "Malte Herwigs Text war eine sauber recherchierte Geschichte über einen außergewöhnlichen Verlagsstreit, in dem er natürlich auch den Kontext thematisierte, in den sich Tuvia Tenenbom in seinem Buch über Antisemitismus in Deutschland selbst setzte. Man muss sich schon große Mühe geben, um daraus einen antisemitischen Angriff zu konstruieren."

Tenenbom erwidert: Die Tatsache, als Jude oder jüdisch bezeichnet zu werden, hätte ihn wohl kaum gestört. Es sei die exakte Formulierung: "Der Jude Tenenbom". Die Religionszugehörigkeit als Etikett. Anstelle des Vornamens.

"Es herrschte Friedhofsruhe"

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Antisemitismus-Vorwürfe: Tenenbom gegen "SZ" und Rowohlt

Wer auf die deutsche Geschichte der Jahre 1933 bis 1945 blickt, wird feststellen, dass sich hier Parallelen finden lassen, vor deren Hintergrund Teneboms Empörung zumindest nachvollziehbar wirkt. In dem weltberühmten autobiografischen Buch "LTI", in dem er sich mit der Sprache des Dritten Reichs auseinandersetzt, berichtet Victor Klemperer stellvertretend für Millionen jüdische Opfer des NS-Systems: "Wenn von mir amtlich die Rede ist, heißt es immer 'der Jude Klemperer'; wenn ich mich auf der Gestapo zu melden habe, setzt es Püffe, wenn ich nicht 'zackig' genug melde: 'Hier ist der Jude Klemperer."

Der Historiker Saul Friedländer zitiert in seinem Standardwerk "Die Jahre der Verfolgung" Joseph Goebbels: Als es um die Ermordung des deutschen Botschaftssekretärs vom Rath 1938 in Paris geht, nennt der Reichsminister für Propaganda im "Völkischen Beoachter" den Attentäter "der Jude Grünspan." Und von einem stigmatisierenden Etikett ist es nur ein kleiner Schritt weiter zum Hass. In seinem Buch "Hitlers willige Vollstrecker" zitiert Daniel Goldhagen ein früheres BDM-Mädel: "Wenn ich verkündete, dass alles Unglück der Völker von den Juden herrühre oder dass der jüdische Geist zersetzend und das jüdische Blut verunreinigend wirke, war ich nicht genötigt (...) an den alten Herrn Lewy oder Rosel Cohn zu denken, sondern ich dachte an das Gespenst 'Der Jude'."

Saul Friedländer, der sich in der Regel sehr zurückhaltend äußert, hat eine recht klare Meinung zu den Wendungen "der Jude Tenebom" und "jüdischer Hysteriker". "Diese Formulierungen gelten allgemein als antisemitisch", sagte der Friedenspreis-Träger SPIEGEL ONLINE. Tenenbom selbst meint: "Hier zeigt sich, wie tief Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft verwurzelt ist: Derart tief, dass man nicht einmal wahrnimmt, dass etwas antisemitisch ist."

Man muss diesem Vorwurf gar nicht zustimmen. Allerdings wiegt er schwer und ist historisch gut genug herleitbar, dass die deutsche Öffentlichkeit ihn zumindest wahrnehmen und sich mit ihm auseinandersetzen sollte. Doch als Tenenbom nach dem "SZ"-Artikel im August in einem an bundesdeutsche Redaktionen übermittelten, geharnischten Online-Statement  seiner Empörung Luft machte, geschah allerdings gar nichts - kein Medium, kein Intellektueller reagierte öffentlich. Oder, wie Tenenbom es formuliert: "Es herrschte Friedhofsruhe."

Die Adressaten seiner Kritik sind nicht am rechten Rand angesiedelt. Es handelt sich hier nicht um einen spektakulären tätlichen Angriff, wie den auf einen Rabbiner in Berlin oder den Boykott eines Films von Claude Lanzmann - sondern um harmlos erscheinende Formulierungen, die man als Medienkonsument schnell überliest.

Der Fall zeigt beispielhaft, dass selbst die liberale Öffentlichkeit nicht davor gefeit ist, in vorbelastete Sprachmuster zurückzufallen. Hier geht es ja nicht um einen einzelnen Verlag oder eine einzelne Redaktion, sondern um die Mitte der Gesellschaft, in der man - vielleicht aus einer Sorglosigkeit, die womöglich aus einem veränderten nationalen Selbstverständnis resultiert - anders mit Sprache umgeht als noch vor wenigen Jahren. Hier geht es um die Gefahr einer schleichenden unauffälligen Ausgrenzung. Und darum, was da anklingt, wenn man jemanden als "der Jude Tenenbom" bezeichnet.

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