TV-Drama über NS-Zeit Wer hat schon saubere Hände?
Die alte Dame riecht nach Cognac, und ihre Fürsorge nimmt bald allzu körperliche Züge an. Exilrussin Ludmilla bittet den kleinen Michael zu sich ins Bett, erzählt dem Jungen von ihrem Ex-Ehemann, der auch Jude war, und preist wehmütig den Vorteil beschnittener Geschlechtsorgane. "Schade", seufzt sie in naiver Bewunderung für den jüdischen Ritus der Vorhautentfernung, "bald wird es in Deutschland wohl keine beschnittenen Männer mehr geben."
Berlin im Frühjahr 1943, die Nazis organisieren in der Hauptstadt die letzte große Deportationswelle. Der elfjährige Michael (Aaron Altaras) und seine Mutter (Nadja Uhl) können ihren Häschern entkommen; bei einer Odyssee durch den Untergrund begegnen sie ganz unterschiedlichen Charakteren. Glücksrittern, Gebrochenen, Taugenichtsen. Man kann sich seine Retter eben nicht aussuchen.
Gleich nach der zudringlichen russischen Pianistin Ludmilla (Hannelore Elsner) geht es zu Oma Teuber (Katharina Thalbach), die gegen Bares nicht nur den beiden Flüchtigen ein paar Couchplätze abtritt, sondern auch die eigenen Töchter an zahlungskräftige Männer. Der proletarische Familienpuff erweist sich als ideales Versteck, nur der offensive Beischlaf im Bett nebenan hält Michael nachts wach und lässt Fragen aufkommen, deren Beantwortung die Mutter verweigert.
Wie soll man sich also orientieren in einer Welt, wo Retter aussehen wie jene Menschen, vor der dich deine Eltern immer gewarnt haben? Wo lediglich ein schmaler Grat zwischen Eigennutz und Altruismus verläuft?
Es ist die große Leistung von Regisseur Jo Baier ("Stauffenberg") diese Trennlinie in "Nicht alle waren Mörder" so dünn wie präzise zu zeichnen. So was ist selten im deutschen Fernsehen und seinen Geschichtsaufarbeitungen, für die man moralische Integrität gerne mit sittlicher Eindeutigkeit verwechselt.
Entstanden ist das erstaunlich leichtfüßig, aber niemals leichtfertig inszenierte Holocaustdrama nach den gleichnamigen Memoiren des jüdischen Schauspielers Michael Degen, der als Junge mit seiner Mutter auf diese abenteuerliche Weise die letzten zwei Jahre des Krieges durchgestanden hat. Die Erinnerung ans kindliche Erleben bietet (bei aller Gefahr der Vereinfachung) eine eigentümliche Art der Objektivität. Denn das Kind kann wahrnehmen ohne zu werten; der Blick aufs Substanzielle bleibt ungetrübt. Auf die Flüchtlingsgeschichte von "Nicht alle waren Mörder" übertragen heißt das: Schutz findet man in der schäbigsten Hütte.
Es geht um echte Charaktere
So kämpfen sich Mutter und Sohn durchs zunehmend zerbombte Berlin, erhalten Unterschlupf bei Säufern, Proleten und Widerstandskämpfern. Eine Figurensammlung, wie man sie in ähnlicher Form in einem der düstersten und psychologisch noch immer stichhaltigsten Romane über das Dritte Reich findet, in Hans Falladas "Jeder stirbt für sich allein". Die Logik der pessimistischen Maxime im Fallada-Titel wird hier allerdings ins Optimistische gewendet. So wie jeder für sich allein stirbt, braucht man zum Überleben eben immer den anderen.
Dass dieser so simple humanistische Ansatz in der ARD-Produktion nicht einen Augenblick lang in der Schönfärberei endet, liegt an der Sachlichkeit im Blick auf das Geschehen. Denn die Retter handeln beileibe nicht uneigennützig. Unterkunft gewährt man Mutter und Sohn erstmal nur wegen der "Penunsen" oder aufgrund des "Pekuniären", wie der kommerzielle Hintergrund der Asylleistung je nach Standeszugehörigkeit genannt wird. Dass ein paar der dubiosen Figuren dann aber doch einen kurzen Augenblick lang die eigene Kostennutzenrechnungen über den Haufen schmeißen, stellt ihre Menschlichkeit umso glaubhafter heraus. Wer hat schon saubere Hände, zum Mörder muss man trotzdem nicht werden.
In diesem Film geht es nicht um die üblichen dramaturgischen Pappkameraden, die sonst so oft die Nazifolklore des deutschen Fernsehens bevölkern. Es geht um echte Charaktere. Umso mehr hätte man sich gewünscht, dass die Produktion als Zweiteiler angelegt worden wäre. Ähnliche TV-Projekte - etwa die gerade im ZDF versendete besenreine NS-Hamburgensie "Neger, Neger, Schornsteinfeger" - werden ja grundsätzlich in zweimal 90 Minuten organisiert. Um die Kosten für Kostüme und Settings wieder reinzukriegen, streckt man die Geschichtsdramen gerne mit bunten Figürchen und unmotivierten Handlungswendungen auf 180 Minuten. So verliert sich das Politische im Pittoresken.
Sorgsam inszenierte Wendung
Bei dem von Event-Spezialist Nico Hoffman (teamWorx) produzierten Film "Nicht alle waren Mörder" würde man indes tatsächlich gerne tiefer in die vielen unterschiedlichen Gestalten eintauchen, etwa in die Geschichte der einstigen Angestellten (Maria Simon), die das Geschäft der jüdischen Familie übernommen hat und nun Mutter und Sohn zur Seite steht, dann aber irgendwann einfach aus der Story geplumpst zu sein scheint. Oder in die Gedankenwelt des Kommunisten (Richy Müller), der so halsstarrig wie beherzt im Untergrund gegen die Nazis agiert.
Zum Glück nimmt sich Regisseur Baier ("Stauffenberg") Zeit, ausgiebig bei einem der interessantesten Charaktere zu verweilen: Am Ende landen die beiden Flüchtigen beim Lokomotivführer Erwin Redlich (polternd und präzise wie eh und je: Axel Prahl), einem grobschlächtigen Alkoholiker, dem wohl nicht zu Unrecht seine Frau davon gelaufen ist, der sich jetzt aber um Michaels Mutter und ihr verstauchtes Bein kümmert. Ist das nun ein Guter oder ein Böser?
In einer sorgsam inszenierten Wendung offenbart sich die beachtliche Komplexität dieses kurzen Spielfilms, der keineswegs alles zeigen muss, um nichts ungesagt zu lassen.
"Nicht alle waren Mörder": Heute Abend, 20.15 Uhr, ARD