
Zhadan und der Ukraine-Konflikt: Der Schriftsteller, der Krieg, die Separatisten
Schriftsteller Serhij Zhadan "Die EU überlässt die Ukraine den Aggressoren"
SPIEGEL ONLINE: Herr Zhadan, erkennen Sie in den Separatisten in der Ostukraine Ihre Landsleute von früher wieder?
Zhadan: Das ist eine komplizierte Frage. Ich kann Ihnen sagen, wer im März an den prorussischen Kundgebungen teilgenommen hat. Das waren vor allem Bürger aus der Ukraine, obwohl damals auch schon Bürger aus Russland aufgetaucht sind, gut präpariert. Mit der Zeit wurden es immer mehr. Wir haben alle in demselben Land gelebt, dieselben Bücher gelesen, dieselbe Musik gehört. Und doch ist es so, dass manchen von uns die Ukraine als Land wirklich etwas bedeutet, für andere ist es ein unverständliches Gebilde. Das ist eigentlich das Schlimmste an dem, was da seit einigen Monaten im Donbass passiert: Dass es den Bürgern eines Landes nicht gelingt, aufeinander zuzugehen und sich zu verständigen.
SPIEGEL ONLINE: War das vor diesem Konflikt denn anders?
Zhadan: Das ist ja gerade das Tragische. In den vergangenen 23 Jahren der ukrainischen Unabhängigkeit waren die Bedingungen für einen bewaffneten Konflikt im Osten nie gegeben. Nicht einmal während der Orange Revolution im Herbst 2004. Nicht einmal im Dezember 2013 und Januar 2014. Für mich ist das ein Beweis dafür, dass dieses ganze Projekt "Neurussland", die Pseudorepubliken, dass all das von außen initiiert und die Stimmung angeheizt wurde. Außerdem war von Anfang an offensichtlich, dass hinter dem "gesellschaftlichen Protest" die russischen Geheimdienste, russische Söldner und russische Waffen stehen. Von Anfang an hat Russland eine entscheidende Rolle gespielt.
SPIEGEL ONLINE: War die Ukraine den ethnisch russischen Bürgern gegenüber tolerant genug?
Zhadan: Das hört sich so an, als hätte die ukrainische Regierung nur aus ethnischen Ukrainern bestanden und die ethnischen Russen unter Ghettobedingungen gelebt. Und als wären die ethnischen Ukrainer und die ethnischen Russen bis vor Kurzem strikt voneinander getrennt gewesen. Die Ukraine ist ein multiethnisches Land, in der Ukraine herrscht de facto Zweisprachigkeit. Ganz zu schweigen von der medialen Landschaft und vom Büchermarkt, auf dem russischsprachige Medien und Verlage eindeutig dominieren.

Serhij Zhadan, 1974 in der Nähe von Luhansk geboren, hat sich mit seiner Lyrik und Prosa zur stärksten Stimme der jungen ukrainischen Literatur entwickelt. Im Juli erhielt er für seinen Roman "Die Erfindung des Jazz im Donbass" den Literaturpreis "Brücke Berlin".
SPIEGEL ONLINE: Die Regierung in Kiew will genau das jetzt aber ändern, sie plant eine Zensur russischer Kunst.
Zhadan: Es ist tatsächlich ein gefährliches Symptom, wenn ein Staat Kunstwerke zensiert. Ich bin gegen solche Zensur. Es stimmt aber auch, dass in Russland antiukrainische Propaganda sehr ausgeprägt ist. In russischen Büchereien gibt es etwa schon seit Jahren Literatur über einen Krieg gegen die Ukraine, und Ukrainophobie findet sich auch im Kino und Fernsehen. Ich bin mir nicht sicher, ob es richtig ist, solche Werke in der Ukraine zuzulassen. "Mein Kampf" ist zum Beispiel auch verboten. Vielleicht brauchen wir eine breitere Debatte darüber, das ist vielleicht besser als staatliche Zensur.
SPIEGEL ONLINE: Werden denn ukrainische Literaten, die auf Russisch schreiben, akzeptiert?
Zhadan: Selbstverständlich. Für viele Ukrainer ist Russisch die Muttersprache. Und so gibt es eine Menge interessanter Lyriker und Prosaautoren, die auf Russisch schreiben, zum Beispiel Andrej Kurkow, Alexander Kabanow und Boris Chersonskij, um nur einige zu nennen. Sie sind Teil unserer literarischen Landschaft, ohne sie würde unser kultureller Raum seine Vielfalt verlieren.
SPIEGEL ONLINE: Warum schlug im Frühjahr die Stimmung im Donbass in einen Aufstand gegen die eigene Regierung um?
Zhadan: Möglicherweise hängt das mit der Angst vor den Konsequenzen der Kiewer Revolution zusammen. Die Flucht des damaligen Präsidenten Janukowytsch, der ja aus dem Donbass stammt und es in Kiew nach oben geschafft hatte, der Machtwechsel, zuvor der erbitterte Widerstand auf dem Maidan: All das hat bei den Menschen Angst und Ablehnung hervorgerufen. Die russische Propaganda und die Medien der gestürzten Janukowytsch-Regierung haben mit ihrer Diffamierung der Bewegung dazu beigetragen. So konnte sich bei den Bewohnern der Ostukraine das Bild von den "Faschisten auf dem Maidan" festsetzen, die bald kommen und alle in KZs sperren werden.
SPIEGEL ONLINE: Hat sich an dieser Vorstellung seitdem nichts verändert?
Zhadan: Ich vermute, dass die meisten Bewohner in Donezk und Luhansk heute nur zu gern das Projekt der "Luhansker Volksrepublik" und der "Donezker Volksrepublik" aufgeben würden, wenn dafür die Kampfhandlungen beendet und der Terror von Seiten der Separatisten gestoppt werden könnte. Aber die örtliche Bevölkerung wird nicht mehr gefragt. Und sie ist es, die in diesem Konflikt am allermeisten leidet.
SPIEGEL ONLINE: Sie selber waren Aktivist der Orange Revolution und haben auf dem Maidan demonstriert. War der Einsatz es rückblickend wert?
Zhadan: Sie meinen, ob ich es bereue? Natürlich nicht. Selbstverständlich gibt es Leute, die heute sagen, vielleicht wäre es besser gewesen, alles so zu lassen, wie es ist. Dann hätte man die Opfer von heute vermeiden können. Der Tod von Menschen lässt sich durch nichts rechtfertigen und kompensieren. Aber eine revolutionäre Situation kommt nicht aus dem Nichts, dafür gibt es immer Ursachen. Die ukrainische Gesellschaft, das ist offensichtlich, will nicht so weiterleben wie bisher. Sie setzt ihren Kampf für Veränderungen fort, obwohl sie einen hohen Preis dafür bezahlen muss. Ich lebe hier und ich bin ein Teil dieser Gesellschaft. Also kann ich nicht abseits stehen.
SPIEGEL ONLINE: Von westlichen Linken kommt immer wieder der Vorwurf, es seien zu viele Faschisten dabei...
Zhadan: Die westlichen Linken haben meiner Meinung nach ein Terminologieproblem: Faschisten sind diejenigen, die in ihrem Land einen Personenkult installieren und sich gegenüber anderen Ländern aggressiv verhalten. In der Ukraine gibt es weder eine Diktatur, noch Rassismus, noch staatlichen Nationalismus - und behaupten Sie ja nicht das Gegenteil. Im ukrainischen Parlament sitzen weniger Rechte als im Europaparlament.
SPIEGEL ONLINE: Die Deutschen haben zum Patriotismus ein masochistisches Verhältnis, hat der Publizist Alfred Grosser unlängst gesagt. Was bedeutet Patriotismus für Sie?
Zhadan: Am besten macht sich der Patriotismus natürlich im Fußballstadion oder auf irgendeinem Songcontest. Aber wenn im eigenen Land de facto Krieg herrscht und seine Existenz infrage steht, fängt man zwangsläufig an, sich darüber Gedanken zu machen, was das Heimatland einem bedeutet, was man für seine Landsleute empfindet, wie man sich seinem Land gegenüber positionieren soll. Ich glaube, diese Art Patriotismus wird zu mehr zivilgesellschaftlicher Aktivität und Verantwortungsbewusstsein führen.
SPIEGEL ONLINE: Was erwarten die Ukrainer von der internationalen Gemeinschaft und von der Europäischen Union?
Zhadan: Ich bin mir sicher, dass die meisten Ukrainer bereits seit diesem Winter keine übermäßigen Illusionen mehr hegen, was die Ehrlichkeit und Unvoreingenommenheit der EU angeht. Die europäischen Politiker tragen auch eine Mitverantwortung für die Ereignisse im Osten der Ukraine. Sie hätten seinerzeit Janukowytsch aufhalten, rechtzeitig Einfluss auf ihn ausüben können. Sie haben stattdessen mit einem Diktator kokettiert. Genauso wie sie heute mit dem russischen Diktator kokettieren und die Ukraine damit faktisch dem Aggressor überlassen. Die Ukrainer haben also keine Illusionen mehr - sie sehen ganz real, dass die EU mit zweierlei Maß misst.
SPIEGEL ONLINE: In Ihrem Buch "Anarchy in the UKR" heißt es: "Vergiss die Politik, lies keine Zeitung, geh nicht ins Netz." Muss ein ukrainischer Schriftsteller das unter den jetzigen Umständen beherzigen, um überhaupt noch schreiben zu können?
Zhadan: Wenn deine Landsleute ums Leben kommen, wenn die Städte in deinem Land brennen, wenn Tausende Menschen ihre Häuser verlassen und fliehen müssen, dann ist das keine Politik mehr. Es ist ein Grauen, auf das man reagieren muss. Wir alle sind heute in einer Situation, in der es gilt, das Wichtigste zu behaupten: das Recht auf Freiheit, das Recht auf unseren souveränen Staat, das Recht auf unsere Zukunft. Ob man darüber schreiben kann? Man kann nicht, man muss.