Urteil zum Contergan-Film "Sieg für alle Kunstschaffenden"
Hamburg - Ein Jahr nach Fertigstellung des WDR-Zweiteilers "Eine einzige Tablette" ist ein Ausstrahlungstermin für den ARD-Film nicht in Sicht. Am Dienstag erzielte der WDR in dem juristischen Tauziehen zwar einen Teilerfolg. Das Hanseatische Oberlandesgericht (OLG) hob in dem Verfahren des Pharmaunternehmens Grünenthal gegen die Produktionsfirma Zeitsprung und den WDR vier einstweilige Verfügungen des Landgerichts Hamburg gegen die Ausstrahlung des Films weitgehend auf. Mit dem Urteil ist jedoch keine Entscheidung gefallen, da noch zwei weitere einstweilige Verfügungen gegen den Fernsehfilm vorliegen.
Mit dem Urteil sei ein erster Teilerfolg für die Kunstfreiheit erreicht worden, sagte der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann. Die Chancen seien gestiegen, dass der Film bald gezeigt werden könne.
Das von Grünenthal 1957 auf den Markt gebrachte Schlafmittel Contergan hatte in den Folgejahren zu schwersten Missbildungen bei Tausenden Neugeborenen geführt. In Deutschland waren rund 5000 Kinder davon betroffen. Im Mittelpunkt des im Januar 2006 abgedrehten und fünf Millionen Euro teuren Zweiteilers unter der Regie von Adolf Winkelmann (Buch: Benedikt Röskau) steht der Anwalt Paul Wegener (Benjamin Sadler), der als Vater eines contergangeschädigten Kindes einen Prozess gegen das verantwortliche Pharmaunternehmen anstrengt.
Grünenthal und der damalige Opferanwalt Karl-Hermann Schulte-Hillen, der sich in der Paul-Figur wiedererkennt, hatten an dem Drehbuch mehrere Passagen beanstandet, in denen sie eine Verdrehung der historischen Tatsachen und die Verletzung von Persönlichkeitsrechten sahen. Im Juli 2006 hatten sie vor dem Landgericht einstweilige Verfügungen gegen den Film erwirkt, woraufhin der WDR und Zeitsprung in Berufung gegangen waren.
Anders als in der Vorinstanz machte das OLG den Film und nicht das Drehbuch zur Grundlage seiner Entscheidung. Die Vorsitzende Richterin Marion Raben sagte heute, die einstweilige Verfügung sei zu einer Zeit ergangen, als die Filmfassung noch nicht vorlag. Zudem seien einige Szenen, die ursprünglich im Drehbuch standen und verboten wurden, nicht oder verändert in den Film übernommen worden. Demnach habe sich der Contergan-Hersteller Grünenthal "im Ergebnis im größeren Umfang durchgesetzt, als dies nunmehr den Anschein habe".
Der Senat habe bei seiner Abwägung insbesondere beachtet, dass es sich bei "Eine einzige Tablette" um ein Kunstwerk handele. Der Spielfilm erhebe nicht den Anspruch, in allen Details die damaligen Ergebnisse dokumentarisch abzubilden. Dennoch enthält der Zweiteiler laut Raben in der jetzigen Fassung Szenen, in denen Grünenthal zu Unrecht bei der damaligen Auseinandersetzung "infame und skrupellose Methoden" unterstellt werden. Dies könne die Firma auch heute noch schwer in ihrem Ansehen schädigen, weshalb das Verbot hinsichtlich dieser Szenen aufrechterhalten bleibe.
In den Verfahren Schulte-Hillen gegen Zeitsprung und den WDR hob der Senat das Verbot des Landgerichts insgesamt auf. Das Drehbuch habe Passagen mit unwahren Aussagen enthalten, die aber nicht in den Film übernommen worden seien. Somit habe sich Schulte-Hillen zum Teil durchgesetzt. Bei der Filmfigur Paul handelt es sich Raben zufolge jedoch um eine eigenständige Figur und nicht um ein Abbild Schulte-Hillens.
WDR-Fernsehdirektor Ulrich Deppendorf nannte das OLG-Urteil "eine richtungweisende Entscheidung", die den Weg für den Film "wieder weitgehend frei gemacht hat". Auch Zeitsprung-Geschäftsführer Michael Souvignier sieht sich bestätigt: "Unser Film ist im Kern historisch korrekt." Das Urteil sei "ein großer Sieg für alle Kunstschaffenden in Deutschland".
Derweil hat Grünenthal-Geschäftsführer Sebastian Wirtz Gesprächsbereitschaft signalisiert, sich "mit den Filmemachern an den Verhandlungstisch zu setzen, da noch eine Vielzahl weiterer gerichtlicher Verfahren anhängig sind". Trotzdem hält Grünenthal einen Antrag beim Bundesverfassungsgericht für denkbar.
Hätte sich der Vorsitzende Richter des Hamburger Landgerichts, Andreas Buske, mit seinen nun weitgehend kassierten Entscheidungen durchgesetzt, hätte es in Zukunft düster ausgesehen für fiktionale TV-Produktionen, die historische Ereignisse mit Personen der Zeitgeschichte als Basis benützen. Buske hatte entschieden, dass Abweichungen von der historischen Wahrheit von Betroffenen "nur noch in Ausnahmekonstellationen" hinzunehmen seien. Ob die verbotenen Szenen nun aus dem Film gestrichen werden, um eine Ausstrahlung doch noch zu ermöglichen, ist unklar. Die Entscheidung darüber liegt nach Angaben des WDR bei Zeitsprung, deren Justiziar Mirek Nitsch heute sagte: "Wir gehen fest davon aus, dass wir den Film in diesem Jahr noch zeigen können". In welcher Form, das wird man sehen.
bor/ddp