US-Medienkrise "Die Zeitungen haben das Schlimmste überstanden"

Den US-Zeitungen geht es miserabel. Nicholas Lemann, Dekan der Journalism School der Columbia University in New York, hat trotzdem Hoffnung. Im Interview mit SPIEGEL ONLINE spricht er über umstrittene Staatsbeihilfen und die gefährliche Skandalsucht der Medien.
Mitarbeiter des gebeutelten "Boston Globe": "Nicht völlig verschwinden"

Mitarbeiter des gebeutelten "Boston Globe": "Nicht völlig verschwinden"

Foto: Lisa Poole/ ASSOCIATED PRESS

SPIEGEL ONLINE: Mr. Lemann, Sie begrüßen die neuen Studenten Ihrer Fakultät jedes Jahr mit einer aufmunternden Rede zur Zukunft ihres Berufs. Was werden Sie ihnen 2010 sagen? Dass sie sich einen anderen Job suchen sollen?

Nicholas Lemann: Ich versichere ihnen, dass der Journalismus nicht verschwinden wird, sich aber gerade auf ziemlich fundamentale Weise neu erfindet. Aus der Sicht eines Studenten, der ein Vollzeitreporter werden will und einen Einstiegsjob sucht, stehen die Dinge im Augenblick gar nicht mal so schlecht.

SPIEGEL ONLINE: Die Auflagenverluste der US-Zeitungen und die drastischen Stellenkürzungen selbst bei einer Institution wie der "New York Times" sprechen aber eine andere Sprache.

Lemann: Nach ein paar Monaten der Eiszeit haben wir wieder begonnen, Leute auf dem Arbeitsmarkt unterzubringen. Im Internet gibt es viele journalistische Startups, und viele unserer jüngsten Absolventen machen spannende Dinge auf der ganzen Welt. Zum Glück gibt es immer noch viele News-Organisationen. Aber es ist höchst unwahrscheinlich, dass man die Schule verlässt und einen Job bekommt, in dem man bleibt, bis man sich zur Ruhe setzt.

SPIEGEL ONLINE: Ist die Ära der einflussreichen Zeitungen endgültig vorbei?

Lemann: Tageszeitungen in den USA werden wahrscheinlich nicht völlig verschwinden. Aber sie sind fast alle geschrumpft. Das heißt aber nicht, dass sie nicht weiter die vorherrschenden Nachrichtenanbieter an ihren Standorten sein werden. Die Zeitungen haben das Schlimmste überstanden.

SPIEGEL ONLINE: Fragt sich, was für eine Art Journalismus dabei übrig bleibt. Ihre Schule hat gerade einen weitreichenden Bericht dazu veröffentlicht: "Der Wiederaufbau des amerikanischen Journalismus". Darin fürchten die Autoren um den "accountability journalism" - Journalismus als Dienst an der Öffentlichkeit, der Machthaber zur Verantwortung zieht. Sind Journalisten überhaupt noch die Vierte Gewalt?

Lemann: "Accountability journalism" ist eine teure Sache. Am schlimmsten ist in dieser Hinsicht nicht so sehr der Abstieg der Zeitungen, sondern das bisherige Versagen fast aller Beteiligten, einen Weg zu finden, "accountability journalism" online zu etablieren. Das Netz ist eine wunderbare Plattform, aber es finanziert sich nicht von selbst.

Die 25 auflagenstärksten Zeitungen der USA

Name Auflage 2009* Veränderung zu 2008*
1. Wall Street Journal 2.024.269 +0.61%
2. USA Today 1.900.116 -17.15%
3. New York Times 927.851 -7.28%
4. Los Angeles Times 657.467 -11.05%
5. Washington Post 582.844 -6.40%
6. Daily News (NY) 544.167 -13.98%
7. New York Post 508.042 -18.77%
8. Chicago Tribune 465.892 -9.72%
9. Houston Chronicle 384.419 -14.24%
10. Philadelphia Inquirer 361.480 k.A.
11. Newsday 357.124 -5.40%
12. Denver Post 340.949 k.A.
13. Arizona Republic 316.874 -12.30%
14. Star Tribune (Minneapolis) 304.543 -5.53%
15. Chicago Sun-Times 275.641 -11.98%
16. Plain Dealer (Cleveland) 271.180 -11.24%
17. Detroit Free Press 269.729 -9.56%
18. Boston Globe 264.105 -18.48%
19. Dallas Morning News 263.810 -22.16%
20. Seattle Times 263.588 k.A.
21. San Francisco Chronicle 251.782 -25.82%
22. Oregonian 249.163 -12.06%
23. Star-Ledger (Newark) 246.006 -22.22%
24. San Diego Union-Tribune 242.705 -10.05%
25. St. Petersburg Times 240.147 -10.70%
Quelle: Audit Bureau of Circulations (ABC), 26. Oktober 2009
*April bis September

SPIEGEL ONLINE: In Ihrem Bericht gibt es einen gewagten Vorschlag: die Gründung eines nationalen "Fund for Local News", eines Fonds für Lokalnachrichten aus Geldern, die die Kommunikationsbehörde FCC bereits kassiert, zum Beispiel von Telekom- und Telefonkunden. Das löste bei vielen Journalisten sofort Sorgen um eine Kontrolle durch die Regierung aus.

Lemann: Wir Journalisten habe einen sehr starken Instinkt, uns vom öffentlichen Sektor fernzuhalten, mit Ausnahme von Schutzgesetzen. Auf die bestehen wir. Wenn man die Leute aber fragt, ob sie NPR (ein öffentlich finanzierter Radiosender in den USA, Anm. d. Red.) oder das öffentliche Fernsehen oder in Großbritannien die BBC abschaffen wollen, ist die Antwort: Tja, vielleicht doch nicht.

SPIEGEL ONLINE: Wir haben in den USA also schon Formen des regierungsgesponserten Journalismus?

Lemann: Es ist doch bemerkenswert, dass es zum Beispiel an Universitäten hier viele Projekte gibt, die sich mit der Suche nach der Wahrheit befassen. Sie werden von der Regierung gesponsert und sind ziemlich erfolgreich. Natürlich birgt jede finanzielle Hilfsquelle das Potential der Korruption. Deshalb muss man Schutzvorrichtungen installieren. Seit Jahren funktioniert das ja auch mit Inserenten. Wir haben uns daran gewöhnt.

SPIEGEL ONLINE: Wie würde das denn mit Regierungsgeldern für Medien funktionieren?

Lemann: Der Bericht schlägt keine Regierungssubventionen vor und auch keine Regierungskontrolle. Er empfiehlt ein automatisches Gebührensystem, das die FCC-Gebühren an Gremien in den Bundesstaaten weiterleitet, die dann substanzielle Finanzverpflichtungen zur Nachrichtenermittlung übernehmen. Da sind viele Schutzvorkehrungen mit eingebaut. Es gibt einen klaren Unterschied zwischen staatlichen Medien und öffentlichen Medien, wie man in vielen anderen Ländern sieht, auch in Deutschland. Amerikanische Journalisten ziehen gerne den voreiligen Schluss, dass das dasselbe sei und dass jedes Mal, wenn man Staatshilfen erhält, die "Prawda" herauskommt.

SPIEGEL ONLINE: Der Bericht schlägt außerdem die Umwandlung von Zeitungen in steuerlich gemeinnützige Organe vor, außerdem verstärkte finanzielle Unterstützung durch philanthropische Einrichtungen und mehr Zusammenarbeit mit öffentlichem Rundfunk und Universitäten. Das klingt schön, aber ist es plausibel?

Lemann: Einiges wird bereits umgesetzt. Alle diese Vorschläge, inklusive des Nachrichtenfonds, sind in jedem Fall durchführbar.

SPIEGEL ONLINE: Der Report malt sich auch einen interaktiveren Ansatz zwischen traditionellen Print-Reportern, Web-Autoren und Bloggern und selbst Lesern aus. Dagegen sträuben sich aber viele Journalisten.

Lemann: Diese Zusammenarbeit findet doch schon statt. Wir haben zueinander gefunden. Die Web-Leute behaupten nicht länger, dass es, selbst wenn alle Journalisten morgen verschwinden würden, noch genau so viele Nachrichten gäbe wie bisher.

SPIEGEL ONLINE: Sensationelle Lügen-Storys wie kürzlich die Aufregung über den erschwindelten Flug eines Sechsjährigen in einem Ballon stärken das Image etablierter Journalisten aber kaum.

Lemann: Diese Sache hat mich frustriert. Wenn man ein rein marktorientiertes System hat, dann werden Geschichten wie dieser "Ballon-Boy" unweigerlich an die Spitze kommen.

SPIEGEL ONLINE: Der "Ballon-Boy" ist also die Zukunft?

Lemann: Journalisten sollten immer versuchen, ihre Arbeit für ein breites Publikum fesselnd zu gestalten. Aber wenn der Markttest dabei die einzige Maßgabe ist, schlägt das Pendel in eine bestimmte Richtung aus. Das andere Extrem wären langweilige Nachrichten. Journalismus muss in der dynamischen Spannung dazwischen existieren.

Das Interview führte Marc Pitzke

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