US-Serie über Irak Ein Fernsehkrieg, der süchtig macht
New York - Bo Rider ist ein amerikanischer Dreamboy: Ein Bilderbuch-Texaner, Football-Star seiner High School, viel versprechender Quarterback, frisch verheiratet, junger Vater. Leider kann er sich die Studiengebühren nicht leisten. Also meldet er sich zur Armee und landet, voller Ideale und Illusionen, im Irak.
"Wir haben die erste Woche überlebt", berichtet Rider seiner Frau in einer Video-Mail aus dem Irak. Kurz darauf fährt sein Truck über eine am Straßenrand verbuddelte Bombe. Die Explosion reißt Rider das halbe Bein ab.
So oder ähnlich sind im Irak schon Hunderte Träume und Leben zugrunde gegangen. Doch Riders Geschichte unterscheidet sich von der Realität in einem Punkt: Sie ist fiktiv.
Bo Rider ist eine der Hauptpersonen in "Over There", einer aufsehenerregenden TV-Abendserie in den USA, die am Mittwoch hier anläuft - die Erste nämlich, die sich mit dem Irak-Krieg beschäftigt. Allein in den ersten drei Folgen scheuen die Autoren vor keinem Tabu zurück, um zu zeigen, wie schnell die Grenze zwischen Gut und Böse verschwimmt: Soldaten sterben, Terroristen morden, Amerikaner foltern, Iraker foltern, Befreier werden Verräter, Feinde werden Freunde, Zivilisten landen im Kreuzfeuer. Krieg, roh, unzensiert.
"Kein Interesse an Politik"
Es ist ein Minenfeld, auf das sich das Filmgeschäft so noch nicht gewagt hat. Kein Wunder, dass das Drama schon jetzt für politische Furore sorgt. Der "Houston Chronicle" schimpft, der aufstrebende Kabelsender FX wolle damit nur "vom Horror eines realen und andauernden Krieges profitieren". Marc Peyser dagegen, der TV-Kritiker des Wochenblatts "Newsweek", wirft "Over There" vor, viel zu wenig Stellung zu beziehen: Trotz allen Blutes bleibe die Serie "blutleer". Und PR-Experten munkeln vom Werbeboykott patriotisch gesinnter Konzerne.
Da kann Steven Bochco nur schmunzeln. Der Autor, Produzent und kluge Kopf hinter "Over There" ist Kontroversen gewöhnt. 1993 schuf er mit seiner Cop-Show "NYPD Blue" ein neues Genre: eine brutal-realistische, sozialkritische Krimiserie, die zeigen wollte, wie es wirklich zugeht beim New York Police Department. "Blue" lief trotz aller Proteste zehn Jahre lang.
"Over There", sagt Bochco, folge dem gleichen Rezept. Das bahnbrechende Drama, von dem FX zunächst 13 Folgen eingeplant hat, solle hinter die Schlagzeilen schauen und zeigen, was die US-Medien sonst vernachlässigten - "starke, menschliche Dramatik". Mehr nicht: "Wir haben keine politische Meinung", sagt Bochco. "Ein junger Mann, der im Gefecht beschossen wird, hat kein Interesse an Politik."
Soldaten sind nicht immer Helden
Und doch reißt "Over There" alle Reizthemen an. Die Serie begleitet einen Trupp blutjunger Soldaten in den Irak - eine Art neue Generation der "Band of Brothers". Der politische Hintergrund des Krieges wird in den ersten Folgen mit keinem Wort erklärt; nur einmal sagt ein Soldat lapidar, er sei wegen 9/11 in die Armee eingetreten. Stattdessen stürzt sich die Handlung gleich in Kalamitäten. "Heute sollte ich nach Hause zurück", brüllt der frustrierte Sergeant Chris Silas, der Chef der Einheit, unter Beschuss. "Und dann sagten sie mir gestern, ich soll 90 Tage länger bleiben."
Solche Klagen lassen sich dieser Tage auch in den Soldaten-Blogs im Internet nachlesen. Bochco und Co-Autor Chris Gerolmo haben sich dort reichlich Anregungen geholt. Die Idee dazu hatte aber nicht Bochco selbst, sondern FX-Präsident John Landgraf. Was überrascht: FX, ein Tochterkanal des Networks Fox, gehört dem konservativen Medienzar Rupert Murdoch. Bochco sagte sofort zu. Denn der Krieg habe alles, was gutes Fernsehen ausmache, sagt Gerolmo: "Drama, Action, Blutvergießen."
"Over there" thematisiert die labile Moral der Truppe ebenso wie deren Gewissenskonflikte und Verfehlungen, das Leiden der Zivilisten ebenso wie die Infamie der Aufständischen. Die Soldaten sind dabei nicht automatisch Helden.
Von wegen unpolitisch
So strotzt der Soldat Frank Dumphy nur so vor Pflichtgefühl - bis ihn die Gräuel zum Zweifler machen. Der Schwarze Avery King bereut seinen Entschluss, zur Armee zu gehen: "Tu bloß nie was aus Wut." Maurice Williams heißt "Smoke", weil er dauern bekifft ist - was bleibe einem auch übrig "hier in Downtown Shitville". Die Rekrutin Brenda Mitchell weidet sich am Leid eines Kriegsgefangenen. Und Rider trägt selbst im Krankenbett noch sein T-Shirt mit dem Armeemotto: "Be all that you can be."
Sie kämpfen und sie langweilen sich. Sie pinkeln in die Wüste, kauen Kaffeepulver, schicken Botschaften nach Hause ("Mommy ist bei der Arbeit, alles ist in Ordnung"). Sie fluchen, heulen und beten, mal aus Angst, mal aus Respekt vor dem Gegner. Sie sind Zyniker ("Dies ist die Armee, hier bleibt keine gute Tat unbestraft") und manchmal auch Rassisten (der neue, muslimische Soldat in der Einheit wird angefeindet - von einem Schwarzen).
Von wegen unpolitisch. Bochco und sein Team fürchten sich vor nichts. So dreht sich die gesamte zweite Folge ("Roadblock Duty") um das ungelöste Problem der Checkpoints im Irak, das seit dem Tod eines italienischen Polizisten im März weltweites Thema wurden.
"Boot Camp" für die Schauspieler
Autor Gerolmo beleuchtet das von allen Seiten: Der Sinn von Straßensperren, das Risiko für Zivilisten, das Dilemma der jungen Soldaten. Als die nächtens das Feuer auf ein verdächtiges Auto eröffnen, stirbt ein Mädchen im Kugelhagel, und die Szene wird in all ihrer Brutalität gezeigt. Ein anderes Fahrzeug am Checkpoint entpuppt sich dagegen als eine von zwei Terroristen gesteuerte Autobombe.
Bereits die dritte Folge ("Der Gefangene") schneidet das Tabu der Folter an. Wann, wie dürfen Kriegsgefangene unter Druck gesetzt werden? Hier thematisiert "Over There" einen Teil jener Konflikte, die in den USA seit dem Skandal von Abu Ghureib gären.
Dass das alles authentisch ist, dafür soll der Militärberater Sean Thomas Bunch sorgen, selbst ein Irak-Veteran, der zehn Jahre lang mit den Marineinfanteristen diente. Der jagte die Schauspieler durch ein fünftägiges "Boot Camp". Das Pentagon jedoch wurde erst gar nicht um Kooperation gebeten: Da hätte man sich mit auch inhaltlich arrangieren müssen.
Videospiel des Todes
Nicht umsonst läuft die Serie erst um 22 Uhr und mit einem Warnhinweis: "Ein Programm speziell nur für Erwachsene". Die erste Gefechtsszene erinnert mit ihren Greueln an den Anfang von Steven Spielbergs "Der Soldat James Ryan". Schon nach 23 Minuten sieht der Zuschauer, wie ein Iraker von einem US-Granatwerfer in zwei Teile geschossen wird, die Beine laufen weiter. "Wir sind Bestien", grübelt Dumphy. "Wir sind Monster. Und der Krieg reißt uns die Maske vom Gesicht."
"Over There" ist fasziniert von der US-Kriegstechologie - und zugleich abgestoßen. Eine Folge schließt, ganz lakonisch während des Nachspanns, mit einem ferngesteuerten US-Raketenangriff auf ein irakisches Gehöft, auf dem Terroristen Waffen versteckt haben, ohne dass die Hofbesitzer davon wissen. Die Szene endet mit der Perspektive der losjagenden Rakete - als körniges Videospiel des Todes.
Besondere Beachtung schenkt "Over There" auch einem Thema, das hier mehr und mehr zur politischen Zwickmühle wird: die schwindende Kriegslust an der Heimatfront. Die Zuschauer erleben die Sorgen der Soldatenfamilien - und auch die sonst kaum beachteten Probleme der Männer, deren Frauen im Krieg sind.
Süchtig nach mehr
Bisher, so meldet FX, habe "Over There" keine Probleme, Werbekunden zu finden: Die erste Folge sei ausgebucht. "Weil es so gut gemacht ist", sagte Tony Ponturo, Marketingchef der Brauerei Anheuser-Busch, dem "Wall Street Journal". Toyota sprang auf, Sony Pictures nutzt die Gelegenheit, seinen militärischen Actionfilm "Stealth" zu propagieren.
"Familiennahe" Konzerne dürften dagegen Abstand halten: "Johnson & Johnson wird nie Spots bei 'Over There' kaufen", glaubt Bruce Lefkowitz, der Werbechef von Fox, dem Muttersender von FX. Das ahnt auch Bill McOwen von der Medienagentur MPG: "Wer will schon mit Autobomben assoziiert werden?"
Doch "Over There" bietet viel mehr als das. Es ist, selbst im Korsett des kommerziellen TV-Formats, eine pop-kulturelle Parabel auf den Krieg - zumindest ein erster Versuch, als solches schon lobenswert. Und die Reaktionen sind die, die auch der Krieg verursacht: Wut, Ärger, Schock, Ablehnung, Mitgefühl, Trauer, Leugnung. Am Ende bleibt allerdings ein einziges, dezidiert ungemütliches Gefühl, von dem auch viele Soldaten berichten, wenn sie heimkehren: Es macht süchtig nach mehr.