Schriftsteller im Faktencheck Hat Uwe Tellkamp recht - oder nicht?

Schriftsteller Uwe Tellkamp (l.), Dichter Durs Grünbein und Moderatorin Karin Großmann im Kulturpalast
Foto: Dietrich Flechtner/ dpaEinst wurde Uwe Tellkamp in seinem bedeutendsten Roman "Der Turm" (2008) die "schneidende, präzise Beobachtung der real-sozialistischen Wirklichkeit" bescheinigt. Am vergangenen Donnerstag saß er in seiner Heimatstadt Dresden im Rahmen einer Podiumsdiskussion auf der Bühne des Kulturpalastes und sorgte mit diversen Aussagen zur aktuellen Flüchtlingspolitik für Aufregung. Seine Zitate veranlassten seinen Verlag Suhrkamp zu einer distanzierenden Stellungnahme. Daraufhin entbrannte eine Debatte mit dem Tenor, Tellkamp solle mundtot gemacht werden, er dürfe seine Meinung nicht mehr sagen, von "Gesinnungsdiktatur", "Verrat" und "Mainstream-Presse" war die Rede. Taugen also Tellkamps Aussagen als "schneidende, präzise Beobachtung" der aktuellen Wirklichkeit, oder hat sich der Schriftsteller verrannt?
Hier drei beispielhafte Aussagen Tellkamps im Check:
1. "Die meisten fliehen nicht vor Krieg und Verfolgung, sondern kommen her, um in die Sozialsysteme einzuwandern. Über 95 Prozent. Das ist eine offizielle Untersuchung. 95 Prozent der Migranten!"
Zunächst einmal: Tellkamp vermischt hier einiges. Er spricht zunächst von Menschen, die "fliehen", also Flüchtlingen, und dann von "Migranten", also Ausländern, die - aus welchen Gründen auch immer - nach Deutschland gekommen sind. Er unterstellt mit dem Verweis auf eine angebliche Studie, dass so gut wie alle Einwanderer (95 Prozent) nur hierherkommen, weil sie Sozialleistungen abgreifen und es sich hier gemütlich machen wollen - so muss man das verstehen. Eine aberwitzige These. Wie kommt er darauf?
Die von Tellkamp genannten 95 Prozent Einwanderung in Sozialsysteme und nur fünf Prozent "echte" Flucht vor Krieg und Verfolgung sind offensichtlich ein beliebtes Argument von Pegida-Anhängern oder rechten Postings . Im November 2016 stützte sich etwa die bei Verschwörungstheoretikern und Rechten beliebte Seite "Epoch Times" auf eine Studie der Ärzte-NGO Médecins du Monde (2016) und titelte "Migranten in Deutschland, nur 4,9 % aus Kriegsgründen - 69,6 % aus wirtschaftlichen Gründen?" Die Website musste sich allerdings selbst korrigieren, denn die Studie befragte ausschnitthaft 10.000 medizinisch behandelte Migranten in Europa und war nicht repräsentativ. In Deutschland wurden nur 500 Menschen mit vorwiegend bulgarischer, rumänischer, serbischer oder vietnamesischer Staatsbürgerschaft befragt - also nicht aus Kriegs- und Krisenländern, aus denen Menschen fliehen, um hier Schutz zu suchen. 69,6 Prozent der Befragten gaben daher auch an, "aus wirtschaftlichen Gründen" nach Deutschland zu kommen (21,8 Prozent folgten Angehörigen) . Hier geht es aber ohnehin nicht um eine unterstellte Einwanderung in die "Sozialsysteme" (Tellkamp). Diese Menschen kommen als (potenzielle) Arbeitnehmer. Die Studie und deren Aufbereitung durch "Epoch Times" taugt also nicht ansatzweise als Beleg für die Aussage Tellkamps oder der Rechten.
Es gibt aber offizielle Zahlen: Gerade hat das Statistische Bundesamt die Migrationszahlen für das Jahr 2016 veröffentlicht .
Demnach sind 2016 insgesamt 1,71 Millionen Menschen mit ausländischem Pass nach Deutschland gezogen. Jeder Zweite der neu Zugewanderten kam aus einem EU-Staat - es handelt sich also um EU-Bürger, die in der Regel nach Deutschland kommen, um hier zu arbeiten, und die damit naturgemäß nicht vor Krieg oder Verfolgung fliehen. Bei diesen Migranten ist aber nicht davon auszugehen, dass sie alle direkt in die Sozialsysteme einwandern (wie Tellkamp unterstellt), da EU-Bürger nur unter strengsten Regeln Zugang zu Sozialleistungen haben .
Ein weiterer großer Teil der Migranten sind Flüchtlinge. Sie kommen nach Deutschland, um einen Asylantrag zu stellen und hier Schutz zu suchen. Fliehen sie tatsächlich vor Krieg und Verfolgung? Das beantwortet die Asylstatistik des Bundesamtes für Migration (BAMF):
Schon bei den Hauptherkunftsländern der Asylbewerber wird klar, dass es hier nicht überwiegend um Einwanderung in Sozialsysteme geht. Ein Viertel aller rund 200.000 Erstanträge stammte 2016 von Syrern, gefolgt von Irakern (11,1 Prozent) und Afghanen (8,3 Prozent). Das sind alles Länder, die seit Jahren von Krieg und Gewalt gezeichnet sind. Zudem: Jeder einzelne Asylantrag wird vom Bundesamt geprüft, und zwar daraufhin, ob die Antragsteller Recht auf Schutz vor eben Krieg und Verfolgung haben. Bei den rund 600.000 Entscheidungen, die 2017 getroffen wurden, haben mehr als 43 Prozent der Asylbewerber ein Bleiberecht bekommen, bei Syrern wurden sogar 91,5 Prozent der Anträge positiv beschieden. Insgesamt wurden nur 38 Prozent der Entscheidungen tatsächlich als unbegründet abgelehnt.
Ein großer Teil der Asylbewerber flieht also tatsächlich vor Krieg und Verfolgung und erhält hier Schutz . Das gilt auch für die vorangegangenen Jahre.
Und wem das noch nicht genügt:
Stützen kann man sich im Hinblick auf Fluchtursachen getrost auf das erste Ergebnis einer langfristig angelegten Umfrage aus dem Jahr 2016 von mehr als 2300 Asylbewerbern in Deutschland. Sie wurde vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Zusammenarbeit mit dem BAMF und dem Sozioökonomischen Panel durchgeführt. Demnach gaben sie als wichtigste Fluchtursachen an:
- 1. Angst vor Krieg und Gewalt: 70 Prozent
- 2. Verfolgung: 44 Prozent
- 3. Zwangsrekrutierung: 36 Prozent
Fazit: Tellkamp ermahnt zwar seinen Kollegen Durs Grünbein, bei den Fakten zu bleiben, nimmt es damit aber selbst nicht genau. Es gibt weder eine Untersuchung noch einen Hinweis darauf, dass 95 Prozent der Migranten oder auch nur der Flüchtlinge das deutsche Sozialsystem unterwandern wollen. Im Gegenteil: Es gibt Zahlen, die belegen, dass viele Flüchtlinge aus gutem Grund in Deutschland Schutz suchen. Und ein weiterer großer Teil der Migranten kommt, um hier zu arbeiten, und hat keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Tellkamps These ist also komplett falsch.
2. "Wir haben eine Million Flüchtlinge, es weiß keiner genau, wie viele. Wir reden über Obergrenzen, die [vermutlich gemeint: die Regierenden] sagen, die Flüchtlinge sind reduziert, sind sie de facto nicht. Wir haben uns geeinigt auf die Art der Obergrenze von 200.000. Ich habe vorhin die Zahl vorgelesen, 500 bis 1000, stand in der 'B.Z.', kommen monatlich, das heißt, wir haben jährlich den Zuzug einer Stadt etwa wie Kassel."
Tellkamp spricht hier von Ängsten, die sich aus solchen Zahlen speisen. Er bedient sich auch hier wieder einer rechtspopulistischen Argumentationslinie, allerdings krude vermischt. Die "B.Z." schreibt in einem Artikel vom Januar , dass jeden Tag zwischen 500 und 1000 illegale Einreisen gezählt würden. Sie sagt dabei aber nicht, woher diese Zahlen stammen oder in welchem Zeitraum diese Zahlen erreicht worden sein sollen. Tellkamp hat die "B.Z." in seinem Eingangsstatement korrekt zitiert.
Später spricht er dann fälschlich von 500 bis 1000 "monatlich". Richtig ist, dass die vielfach kolportierte Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen ungefähr der Einwohnerzahl Kassels entspricht (204.021).
Einem Asylantrag in Deutschland geht fast immer eine illegale Einreise voraus, denn das ist ja ein zentrales Merkmal von "Flucht": In der Regel können Asylbewerber eben kein Visum beantragen, mit dem sie legal einreisen könnten. Daher dürfen sie laut Genfer Flüchtlingskonvention nicht wegen einer illegalen Einreise bestraft werden .
Fakt ist: Die Bundespolizei zählte für 2016 mehr als 110.000 unerlaubte Einreisen und deren Versuche.
Im vergangenen Jahr sind die registrierten unerlaubten Einreisen aber um mehr als die Hälfte auf rund 50.000 zurückgegangen. Damit sind im Übrigen nicht nur Grenzübertritte von Flüchtlingen gemeint. Das heißt also: 2016 waren es rund 300 pro Tag, 2017 nur noch weniger als 140 täglich. Das liegt deutlich unter den von Tellkamp genannten Zahlen von 500 oder gar 1000 unerlaubten Einreisen.
Und natürlich weiß man genau, wie viele Asylbewerber in den letzten Jahren zu uns gekommen sind und hier leben. Nur in der Hochphase des Flüchtlingswinters 2015/2016 waren die Behörden überfordert, die genaue Zahl der Asylsuchenden zu erfassen. Inzwischen liegen jedoch Statistiken vor: Im Jahr 2017 wurden knapp 190.000 asylsuchende Menschen in Deutschland neu registriert, im Jahr zuvor waren es noch etwa 280.000, und im Jahr 2015 noch rund 890.000. Die Flüchtlingszahlen sind also de facto deutlich gesunken. Laut Statistik des Bundesinnenministeriums sind in den vergangenen zwei Monaten rund 26.000 neue Asylsuchende gezählt worden. Das sind noch mal 17 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum. Das entspricht fürs letzte Jahr aber tatsächlich einer Zahl von durchschnittlich um die 500 Asylsuchenden am Tag. Von illegalen Einreisen kann man hier allerdings nicht sprechen.
Wenn er denn wollte, könnte Uwe Tellkamp sich also gründlich über die die Zahl der Asylbewerber informieren - denn das Bundesamt für Migration veröffentlicht jeden Monat detaillierte Statistiken . Und wir wissen nicht nur, wie viele Flüchtlinge kommen - wir wissen sogar genau, wie viele hier leben, ganz offiziell erfasst vom Statistischen Bundesamt .
Fazit: Tellkamps Angst vor zu viel Einwanderung fußt zum großen Teil auf falschen Annahmen und Zahlen. Die fiktive Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen wurde schon im vergangenen Jahr unterschritten, Flüchtlingszahlen in der Größenordnung von 2015 gibt es derzeit nicht.
3. "Es wird in dem Land immer noch mit zweierlei Maß gemessen. Beispiel: 'Wir werden sie jagen'. Alexander Gauland. Riesen-Bohei in den Medien. Johannes Kahrs von der SPD sagt genau das Gleiche. Das interessiert niemanden. Der twittert's noch. Sigmar Gabriel, heute ist er zurückgetreten...: 'Wir werden die Regierung rückstandsfrei entsorgen.'"
Auch das ist ein beliebtes Argument von Rechten. Zunächst findet sich aber kein wörtlicher Aufruf von Ex-Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) oder seines Parteigenossen Johannes Kahrs zur Jagd auf Merkel. Aufrufe zur Kanzlerjagd gab es allerdings in der Vergangenheit schon viele. Kahrs und Gabriel dienten aber vor allem mit einem anderen Wort als Rechtfertigung für provokative Aussagen: Alexander Gauland (AfD) tönte, man wolle die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Aydan Özuguz in die Türkei "entsorgen", sein Kollege Jörg Meuthen sprach ebenso davon, die Regierung Merkel "rückstandsfrei zu entsorgen" , und verwies dabei auf ein gleichlautendes Zitat Sigmar Gabriels. Letzteres hatte der damalige SPD-Chef im Jahr 2012 ebenfalls gesagt. Von einem Bürger darauf angesprochen, bestritt er das im Jahr 2017.
In der Twitter-Timeline von Kahrs, der sich in der Tat schon häufiger in der Wortwahl vergriff, findet sich im Jahr 2013 auch ein "Entsorgen"-Zitat mit Bezug auf die Kanzlerin:
Und es gibt sicherlich noch mehr derartige Müllmann-Äußerungen: "Wir haben gute Chancen, Schwarz-Gelb komplett und rückstandsfrei in die Opposition zu entsorgen." Dieses Zitat stammt zum Beispiel von dem grünen NRW-Landespolitiker Arndt Klocke aus dem Jahr 2010, im Zuge der damaligen Landtagswahl.
Dass es aber einen Unterschied macht, ob man direkt eine Regierungsmitarbeiterin mit Migrationshintergrund in ein bestimmtes Land oder süffisant in eine Regierung "entsorgen" will, darauf wies auch der selbst äußerst streitbare ehemalige Bundesrichter Thomas Fischer im August 2017 hin:
"Während die erste eine pseudolustige Schmähung der Person ist, bezieht sich die letztere ausdrücklich auf die Person als Mitglied einer ethnischen Minderheitsgruppe, verbunden mit dem Ausdruck der Hoffnung, sie außer Landes schaffen und dort 'entsorgen' zu können, weil sie 'in Deutschland nichts verloren' habe. In diesem Sinnzusammenhang hat der Begriff 'entsorgen' eine offenkundig rassistische, auf Verletzung der Menschenwürde gerichtete Bedeutung ."
Fazit: Johannes Kahrs wollte Merkel wahrscheinlich nicht jagen, aber entsorgen. Der damalige SPD-Chef Gabriel wollte die Regierung Merkel 2012 ebenfalls entsorgen. Sicher gibt es in den Archiven noch mehr derartige Äußerungen von Politikern unterschiedlichster Couleur. Sicher ist auch, dass Alexander Gauland von der AfD einen Menschen mit rassistischem Zungenschlag in der Türkei "entsorgen" wollte. Und das ist das, was Beobachter aufregt. Der wortmächtige Tellkamp hat in diesem Punkt recht, missachtet aber den Kontext. Übrigens ist Gabriel vergangene Woche nicht zurückgetreten: Er wurde bei der Besetzung des künftigen Bundeskabinetts schlicht nicht mehr berücksichtigt.
Gesamtfazit: Auf dem Podium in Dresden saß also ein deutscher Schriftsteller, der sich offenbar durch Angst, Ressentiment und Wut den klaren Blick auf die Wirklichkeit ein gutes Stück verbauen ließ. Während sich sein Kollege Durs Grünbein sichtlich mühte, zuzuhören und den Diskurs zum angesetzten Thema Meinungsfreiheit mit Argumenten der Vernunft zu füllen, setzte ihm Tellkamp finster eine Sammlung rechter Parolen und Dünkel entgegen. Dazu nahm er es an einigen Stellen mit den Fakten nicht zu genau, vor allem in Bezug auf die Flüchtlingsthematik.