"Weber"-Skandal in Dresden Geisterbahn Ost

"Die Weber", ein über 100 Jahre altes Stück des Dramatikers Gerhart Hauptmann, sorgt in Dresden wegen einer gegen Sabine Christiansen gerichteten Textstelle für Aufregung. Das "Verbot" durch ein Berliner Gericht empfinden die Dresdner als Zensur. Aus dem Skandal um Kunst wird ein Kampf zwischen Ost- und Westdeutschland.
Von Henryk M. Broder

Den Kaufmann von Venedig hat man in diesem Jahr schon gespielt, den Volksfeind von Ibsen, die Ermittlung von Peter Weiss und die Landnahme von Christoph Hein, die Rezensionen waren wohlwollend bis kritisch, niemand hat sich aufgeregt, und es gab keinen Skandal. Und dann passierte, womit niemand am Dresdner Staatsschauspiel gerechnet hatte, obwohl die Zeichen schon seit Tagen auf Sturm standen. "Wir dürfen heute Abend nicht spielen", sagt der Intendant, "wir bereiten eine Alternative vor".

Der Intendant Holk Freytag wirkt, als sei er beim Mittagsschlaf auf seinem Sofa von einem Blitz getroffen worden. "Ein gewisses Gefühl der Ohnmacht macht sich bei mir breit und ein Gefühl der Wut, ein deutliches Gefühl der Wut."

Dabei müsste dem erfahrenen Theatermann das Stück, in das er geraten ist, eigentlich gefallen. Am Mittwoch letzter Woche wurde vor der 3. Zivilkammer des Landgerichts Dresden über einen Antrag der TV-Moderatorin Sabine Christiansen auf Erlass einer Einstweiligen Verfügung gegen das Schauspielhaus Dresden verhandelt. Frau Christiansen wollte, dass eine Textstelle aus der laufenden Inszenierung der "Weber" von Gerhart Hauptmann entfernt wird, in der ein Laienspieler sagt: "Wen ich sehr schnell erschießen würde, das wäre Frau Christiansen, weil sie so oft die Chance gehabt hätte, eben diese Leute auch wirklich zu schlagen, diese ganzen alten blöden Männer."

Da Gerhart Hauptmann eine Weile vor Frau Christiansen gelebt und kein Fernsehen gehabt hat, kommt diese Stelle in seinem Stück nicht vor. Sie wurde, wie im modernen Theater üblich, vom Dramaturgen und Regisseur mit den Darstellern "erarbeitet" und in den Text eingefügt. Zur Verhandlung vor dem Landgericht kam es, weil der Intendant diesen Satz für unverzichtbar hielt und sich der "Zensur" nicht beugen wollte.

Und mitten in der Verhandlung stand plötzlich ein bis dahin unbeteiligter Anwalt auf und erklärte, er habe bereits eine Einstweilige Verfügung gegen das Dresdener Theater vor dem Berliner Landgericht erwirkt, man brauche deshalb nicht weiter zu verhandeln. Es war der Vertreter des Theaterverlages Felix Bloch Erben, der Hauptmanns literarisches Erbe verwaltet. Und so geschah es. Der Anwalt von Frau Christiansen erklärte den Fall für erledigt, das überraschte Gericht vertagte sich.

"Der Verlag hat uns eine Kriegserklärung auf den Tisch geknallt", sagt der Intendant und weist auf das Timing hin: "Die Einstweilige Verfügung kam auf Stichwort. Das ist ein kategorischer Fall von Zensur." Der Pressesprecher des Hauses, Wilm Heinrich, nebenbei SPD-Stadtrat in Dresden, glaubt wie sein Chef an eine Zusammenarbeit hinter den Kulissen und verweist auf die "auffällige zeitliche Parallelität zwischen der Aktivität des Verlages und Frau Christiansen". Auch die Besucher der Theaterkantine haben keine Zweifel: "Man legt sich nicht mit Frau Christiansen an, das ist schon Ulla Kock am Brink nicht gut bekommen."

Dass der Verlag eigene Interessen vertritt und nicht als der verlängerte Arm von Frau Christiansen agiert, das wird in Dresden für so unwahrscheinlich gehalten wie die Wiedereinführung der DDR-Mark. "Der Verlag wusste Bescheid", behauptet der Intendant, außerdem müsse man "gerade im Theater einen menschlichen Umgang miteinander pflegen und nicht alles justitiabel regeln". Man habe das Werk von Gerhart Hauptmann "aktualisiert" und "fortgeschrieben", sagt der Dramaturg Stefan Schnabel, "wir fühlten uns beim Machen auf der Seite von Herrn Hauptmann". Die Intervention des Verlages stelle die "Redlichkeit des aufklärerischen Unternehmens" in Frage. "Ich weigere mich anzuerkennen, dass sie damit durchkommen! Diese Realität erkenne ich nicht an!"

Der Verlag sieht das natürlich anders. "Wir können es nicht hinnehmen, dass das Werk von Gerhart Hauptmann verfälscht wird", sagt die Prokuristin Bettina Migge. Die Enkelin des Dichters, Anja Hauptmann, spricht sogar von "Volksverhetzung", die man nicht nur riskiert sondern beabsichtigt habe: "Die wollten einen Skandal haben, und nun haben sie ihn bekommen." Der Verlag sei vom Theater informiert worden, dass es im Stück einen "Chor der Arbeitslosen" geben würde. "Man hat uns aber nicht mitgeteilt, was der Chor sagen würde, und was da gesagt wird, hat mit Gerhart Hauptmann nichts zu tun. Es sind die Gewaltphantasien der Theaterleute, die sie unter Berufung auf Hauptmann ausleben."

So sieht es auch das Berliner Landgericht. In der Begründung der Einstweiligen Verfügung heißt es: "Dem Regisseur ist es zwar nicht grundsätzlich verwehrt, sich gestalterisch im Sinne einer Modernisierung bzw. Aktualisierung zu betätigen, eine Hinzufügung komplett neuer umfangreicher Texte, die keinen inhaltlichen Bezug zu der von dem Werk erzählten Geschichte haben, überschreitet indes die durch Treu und Glauben gezogene Grenze (...) des Vertrages (...) bei weitem."

Was auf den ersten Blick wie eine Auseinandersetzung um Werktreue und die Freiheit der Kunst anmutet, die "zu weit gehen muss, um herauszufinden, wie weit sie gehen darf" (Heinrich Böll), gerät in Dresden im Handumdrehen zu einem Kampf um die kulturelle Identität des Ostens, die vom Westen bedroht wird. Da die "Weber" in der inkriminierten Fassung nicht gespielt werden dürfen, sitzen als "Alternative" sieben überwiegend ältere Herren auf der Bühne und diskutieren unter der Leitung des Chefredakteurs der Dresdner "Neuesten Nachrichten" darüber, was Kunst zu leisten vermag.

Doch zunächst wird ausgiebig mit Sabine Christiansen abgerechnet, obwohl es nicht deren Einstweilige Verfügung war, die das Stück zu Fall gebracht hat. Sie sei, heißt es, "ein Markenname" und müsse es sich gefallen lassen, stellvertretend für das Fernsehen angegriffen zu werden. Einerseits sei der so genannte Mordaufruf keiner, andererseits provoziere sie durch ihr Verhalten genau solche Reaktionen. "Wir wollen der Verzweiflung eine Stimme geben", sagt Regisseur Volker Lösch und gibt Frau Christiansen den Rat, sie sollte "mal eine Woche auf dem Arbeitsamt arbeiten und hören, was da in Gedanken gemordet und zerstückelt wird". Das Publikum dankt es ihm mit Beifall und Jubel, obwohl er nicht verraten hat, wann er das letzte Mal eine Woche lang auf dem Arbeitsamt gearbeitet hat.

Beifall und Jubel gibt es auch, als der Intendant sagt, es gehe um die Darstellung der "ostdeutschen kollektiven Biografie", um "subversives Theater" im Dienste der Wahrheit und Gerechtigkeit: "Wo die Gerichtsbarkeit der Welt aufhört, da fängt die Gerichtsbarkeit der Bühne an!" Und so wird die Diskussion, die keine ist, weil alle derselben Meinung sind, zum Volksgericht über eine Verschwörung; die Richter sitzen auf der Bühne, die Zeugen im Parkett.

Ein Mann, der sich als Diplom-Historiker vorstellt, ist überzeugt, hinter Frau Christiansen steckten "ganz andere Kräfte und Interessen", eine junge Frau klagt mit stockender Stimme: "Ich fühle mich von Berlin entmündigt. Das kann nicht sein, das hatten wir vor der Wende!" Ein Mann, der sich ebenfalls nicht mit Namen zu erkennen gibt, ruft in den Saal: "Das Theater ist die letzte Insel, die Medien sind fest in der Hand des Establishments!" Und niemand lacht oder widerspricht, auch nicht der Intendant. Der redet sogar dann noch von "merkwürdigen Koinzidenzen", als ein Besucher die Theorie entwickelt, das "Verbot" des Stückes habe "mit den Montagsdemos" zu tun, es solle verhindert werden, "dass das Volk zu Wort kommt - das Volk soll mundtot gemacht werden". Geisterbahn Ost.

Kein Mensch sagt, das Copyright gelte auch für tote Autoren, es gebe ein Recht auf geistiges Eigentum und unabhängige Gerichte, die jeder, der sich geschädigt fühlt, anrufen darf. Und kein Mensch fragt, warum die Theaterleute, wenn sie ein Drama über die Nöte der Menschen heute spielen wollen, sich an einem über 100 Jahre alten Text vergreifen, statt ein neues Stück zu "erarbeiten", mit Arbeitslosen, die sich als Zeichen ihrer Verzweiflung ein Bier nach dem anderen über die Kleider schütten. Stattdessen ist von einem "Ersatzskandal" die Rede, "um die Weber noch einmal zu unterdrücken".

Ganz zum Schluss meldet sich eine junge Frau von etwa 18 Jahren zu Wort und fragt: "Was soll aus mir werden, wenn ich mal groß bin?" Da müssen viele lachen. Zum ersten und einzigen Mal an diesem Abend.

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