Wilson und Grönemeyer am Berliner Ensemble Todessehnsucht mit Tschingderassabum

Alt-Avantgardist Robert Wilson inszenierte Georg Büchners "Leonce und Lena" am Berliner Ensemble als witzig-bildgewaltige Satire mit herausragenden Darstellern. Einziger Störfaktor: die fast immer unpassende Musik von Herbert Grönemeyer.
Von Henrike Thomsen

Der Beginn von Robert Wilsons Inszenierung "Leonce und Lena" mit Musik von Herbert Grönemeyer lässt nichts Gutes erahnen. Als hätten sich die kleinen Strolche aus der Stummfilm-Klamotte in einen Wilhelm-Busch-Comic verirrt, rasen die Schauspieler über die Bühne des Berliner Ensembles. Das Orchester unterstreicht ihre plakativ aufgesetzte Komik mit einer Mischung aus Jahrmarkt-Tschingderassabum und dem, was im Film "Mickey-Mousing" heißt: Jede dumme Grimasse, jede verstolperte Geste wird mit einem akustischen Effekt unterstrichen, damit noch der letzte Zuschauer begreift, er habe hier zu lachen. So lächerlich Georg Büchner selbst in seiner Satire eine degenerierte Wohlstandswelt vorführt, atmet Wilsons Auftakt dennoch Altherren-Humor: Man wird kindisch, will dafür aber die Ehrenmedaille im Club der Lausbub-Veteranen.

Das ästhetische System des 62-jährigen Regie-Avantgardisten aus Texas ist seit Jahren etabliert. Auch für diese Aufführung zitiert er aus seinem breiten Repertoire stilisierter Gesten, surreal entrückter Lichtstimmungen und mit dem Ensemble gleichwertig agierenden Kulissen. Die Leistung der Schauspieler aber bleibt individuell so stark, dass die zwei Stunden doch unerwartet spannend und unterhaltsam ausfallen. Walter Schmidinger schusselt mit unverbesserlich wienerischem Schmäh als seniler König Peter herum.

Sein chronisch gelangweilter Sohn Leonce (Markus Meyer) ist so leer, wie Büchner es sich nur wünschen konnte, und kann den Phantomschmerz seiner amputierten Seele nur durch akrobatische Tänze ausdrücken. Nina Hoss gibt ihrer Prinzessin Lena eine zarte Verträumtheit und zugleich verschlossene Eigensinnigkeit. Sie trifft genau die Stimmung eines jungen Mädchens in der Pubertät. Stefan Kurt als Hofnarr Valerio schließlich tritt in der Welt sorgfältig gekämmter Lakaien als schlechtes Peter-Maffay-Double auf: Lange Haare, nackte Brust, Rockerpose und Schmalzsongs. Am Ende aber entpuppt er sich als der einzige effektive Machtmensch, der den maroden Staat an sich reißt.

Die Musik von Herbert Grönemeyer ist die eigentliche Enttäuschung des Abends. Sie bleibt seltsam undefiniert in ihren Konturen, und dies nicht, weil man als Zuschauer statt eines Musicals ein Grönemeyer-Konzert erwartet hätte. Es wirkt mehr, als wäre die akustische Jacke für die meisten Szenen falsch angepasst. So springt die erste Begegnung von Leonce und Valerio aus Büchners beiläufigem Wortgeplänkel in das schwere Pathos der Ballade "Von Gleichmut gerührt...". Leonces Abschied von seiner Geliebten Rosetta, eine der berührendsten Momente des Stücks, dagegen erhält eine überaus herbe Flamenco-Stimmung.

Ausnahmen gibt es auch hier. Das Rap-Thema des Königs und seines Hofstaats ("ich bin a König und ka Herz") hat bösartigen Schmiss, und Nina Hoss macht ohnehin aus allem etwas Hörenswertes. Doch die Wuchtigkeit, mit der die Musik gegen die Rokoko-Eleganz der Inszenierung anrennt, bildet insgesamt keinen prickelnden Kontrast. Während die Schauspieler fein ziseliert die Todessehnsucht ihrer Figuren ausagieren, trompetet es im nächsten Moment aus ihnen oder dem Orchestergraben nur so hervor.

Dem kommerziellen Erfolg der Inszenierung wird dies wohl kaum schaden: Die kommenden Vorstellungen im Mai sind weitgehend ausverkauft, für Juni gibt es noch Karten per Vorbestellung.

"Leonce und Lena" von Robert Wilson, Musik von Herbert Grönemeyer am Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm. Mit Nina Hoss, Walter Schmidinger, Markus Meyer. Weitere Vorstellungen am 10., 11. und 12. Mai

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