
Wirbel um Grass-Interview: Waren die Deutschen auch Opfer?
Wirbel um Holocaust-Aussagen Israelischer Historiker verteidigt Günter Grass
An Günter Grass scheiden sich die Geister, das ist auch jetzt noch so, in seinem 84. Lebensjahr, auch zwölf Jahre nachdem ihm der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde: Ob er sich für die SPD oder gegen Atomkraft einsetzt, oder Kanzlerin Angela Merkel vorhält, die interessiere sich nur vorgeblich für Frauenfußball - was Grass schreibt und sagt, erhitzt das deutsche Gemüt.
Jetzt ist Grass' autobiografisches Werk "Beim Häuten der Zwiebel" in Israel erschienen. Über das Buch war vor fünf Jahren in Deutschland hitzig diskutiert worden, weil sich der Autor darin erstmals zu seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS bekennt. Der Historiker und Publizist Tom Segev hat diese Veröffentlichung zum Anlass genommen, Grass zu besuchen und mit ihm für die renommierte israelische Zeitung "Ha'aretz" ein langes Interview zu führen. In dem Gespräch geht es um den Holocaust, die Schuld der Deutschen und vor allem deren neue Selbstbeschreibung als Opfer. Grass argumentiert recht defensiv und wirkt stellenweise gereizt. Gegen Ende findet sich eine Passage, die nun für Wirbel sorgt:
"Aber der Wahnsinn und die Verbrechen fanden nicht nur ihren Ausdruck im Holocaust und hörten nicht mit dem Kriegsende auf. Von acht Millionen deutschen Soldaten, die von den Russen gefangen genommen wurden, haben vielleicht zwei Millionen überlebt, und der ganze Rest wurde liquidiert. Es gab 14 Millionen Flüchtlinge in Deutschland, das halbe Land ging direkt von der Nazityrannei in die kommunistische Tyrannei. Ich sage das nicht, um das Gewicht der Verbrechen gegen die Juden zu vermindern, aber der Holocaust war nicht das einzige Verbrechen. Wir tragen die Verantwortung für die Verbrechen der Nazis, aber ihre Verbrechen fügten auch den Deutschen schlimme Katastrophen zu, und so wurden sie zu Opfern."
Das Problem dabei: Es gab keine acht Millionen deutschen Kriegsgefangenen in Russland, sondern etwa drei Millionen, davon kam etwa jeder Dritte ums Leben, also etwa eine Million. Auch wurden diese Männer nicht "liquidiert", sondern starben wohl mehrheitlich an den harten Lebensbedingungen.
Das "Phantasiebild" war ein Ausrutscher
Diese Ungereimtheit bezüglich der Zahlen ist dem Historiker Peter Jahn aufgefallen. In einem Gastbeitrag für die "Süddeutsche Zeitung" wirft er Grass die Relativierung des Holocaust vor und unterstellt dem Schriftsteller, er würde den tatsächlich von den Deutschen ermordeten sechs Millionen Juden das "Phantasiebild" derselben Anzahl deutscher Kriegsgefangener gegenüberstellen und diese miteinander aufrechnen - das sei moralisch erklärungsbedürftig.
Erklärungsbedürftig ist dabei allerdings auch: Wie kann es sein, dass der Autor des Interviews, Tom Segev, selbst ein prominenter Historiker und Holocaust-Forscher, Grass eine solche Ungenauigkeit durchgehen lässt? Warum hat er nicht reagiert, als Grass - und das ausgerechnet in einer israelischen Zeitung! - den Holocaust mit ausgedachten russischen Untaten verrechnete? Handelt es sich bei der ganzen Sache vielleicht um einen simplen Übersetzungsfehler?
Nein, das nicht. Er habe die Tonbandaufnahme des Gesprächs noch mal abgehört, sagte Tom Segev SPIEGEL ONLINE. Das Interview habe er auf Deutsch geführt, den Text auf Hebräisch geschrieben, dieser sei dann ins Englische übertragen worden für die internationale "Ha'aretz"-Web-Seite. Aber dabei sei kein Fehler passiert.
Doch die Geschichte ist Tom Segev offensichtlich peinlich. Dass Grass falsche Zahlen genannt habe, habe er schlicht übersehen. Zuerst in der konkreten Interview-Situation, als er dem Schriftsteller gegenüber saß. Später noch mal beim Schreiben. Und in der "Ha'aretz"-Redaktion habe den Fehler auch niemand bemerkt. Die skandalisierte Passage sei schlicht nebensächlich gewesen - genauso gut hätte Grass sagen können, es seien "viele" deutsche Kriegsgefangene in Russland umgekommen. Die Grass'sche Aussage, dass die Nazi-Verbrechen mit dem Holocaust nicht ihr Ende gefunden, sondern auch schreckliche Folgen für die Deutschen gezeitigt hätten, hält Segev für legitim.
"Vollkommen unwesentlich für das Gespräch"
Grass, den Segev, seit er sich mit Deutschland beschäftige, als den sinnbildlich "guten Deutschen" kennengelernt habe, habe sich in dem Gespräch "in keiner Weise radikal" geäußert. "Er hat eben eine falsche Zahl genannt. Hätte ich es bemerkt, hätte ich ihn darauf hingewiesen, dann hätte er sich sofort korrigiert. Dieser Irrtum ist vollkommen unwesentlich für den Charakter des Gesprächs. Ich glaube, dass man ihm Unrecht tut, wenn man ihm dieses Versehen nun vorwirft." An keiner Stelle habe Günter Grass "auch nur andeutungsweise" den Holocaust relativiert.
In einer Replik auf den Text des Historikers Jahn, die Segev laut eigener Aussage per E-Mail an die "Süddeutsche Zeitung" geschickt hat und die SPIEGEL ONLINE vorliegt ( hier nachzulesen), entschuldigt er sich sogar dafür, dass er Grass nicht korrigiert hat - und äußert sein Unverständnis über die empörten Reaktionen auf das Interview: "Ironischerweise scheinen die Menschen in Israel vernünftiger mit Grass umgehen zu können als die Deutschen."