Wolf Biermann über den Bombenkrieg "Wir sind durchs Feuer gelaufen"
Herr Biermann, Sie haben als Kind die schweren Luftangriffe auf Hamburg im Sommer 1943 überlebt. Ihr Vater war als Jude und Kommunist im KZ ermordet worden, Sie saßen mit der Mutter im Luftschutzkeller. Mit welchen Gefühlen mag Ihre Mutter das durchlitten haben?
Wolf Biermann:
Meine Mutter freute sich über die Bombenangriffe, weil auch sie Kommunistin war - und weil nicht allein mein Vater, sondern unsere gesamte jüdische Familie ermordet worden war. Die alliierten Bomber waren unsere Freunde, wie man es kindisch sagt: unsere Verbündeten, die uns befreien sollten, von den Nazis.
Sie haben es geschafft, aus diesem Inferno herauszukommen. Gibt es direkte Erinnerungen? Mögen Sie das noch einmal ausführlich erzählen?
Biermann: An diese eine Nacht kann ich mich grauenhaft gut erinnern! Alles vorher ist weg, alles nachher ist weg. Diese Nacht aber ist im wahrsten Sinne des Wortes eingebrannt in mein Gedächtnis. Ich war ja erst sechseinhalb, aber es ist nie gelöscht worden, in meinem kleinen Computer hier. Natürlich auch deswegen nicht, weil es immer wieder aufgefrischt wurde. Sowas erzählt man. Sowas wird in der Familie immer wieder erzählt, das wird Freunden erzählt. Und wenn man eine Geschichte so oft erzählt, kann es natürlich passieren, daß sie auch abgefälscht wird, ohne dass man es merkt, ohne dass man es will. Aber ich kann Ihnen nur das liefern, was ich im Gehirn habe. Und ich glaube, es ist - trotz der langen Zeit - noch ziemlich authentisch.
In der ersten Nacht brannte unser Haus noch nicht ab, sondern nur die Häuser rundum. Unser Haus stand da noch wie ein einzelner Zahn im Gebiß. Wir saßen dann in der nächsten Nacht wieder im Bombenkeller unter dem Haus, und nun brannte auch unser Haus. Über uns der Weltuntergang! Und im Keller saßen die Leute wie die Tiere, es war bald klar, dass wir nicht mehr rauskommen, weil die Glut schon die Kellertreppe herunterkroch. Mit einer Spitzhacke wurde also ein vorbereiteter Durchbruch aufgeschlagen, der nur einen halben Ziegelstein stark war: zum Nachbarhaus, das ja schon abgebrannt war - zum Glück! Und dann krochen die Leute - einer nach dem anderen - mit irgendwas, was sie gerade noch erwischten, durch dieses Loch in der Brandmauer zum Nachbarhaus und verschwanden.
Ich saß da allein mit meiner Mutter. Die saß wie angenagelt, ich weiß auch nicht warum; ich habe sie nie danach gefragt. Die saß da gelähmt oder aus Klugheit - denn in so einer Panik macht man sowieso immer alles falsch. Weggehen ist falsch: Man läuft in den Tod. Dableiben ist falsch: Der Tod kommt zu einem. Niemand ist rational in so einer Situation. Ich aber war es praktisch schon: Ich habe nämlich meinen kleinen Kopf in den Mantel von meiner Mutter gedrückt, in ihren Schoß und konnte so Luft holen; die Luft war kaum noch zu atmen sonst.
Dann wurde wohl auch meiner Mutter klar, dass wir da verbrennen würden. Sie nahm mein kleines Lederköfferchen, wo unsere Papiere und ein paar Fotos von meinem Vater drin waren, der ein paar Monate vorher in Auschwitz durch den Feuerofen gegangen war, als Jude, als Kommunist. Und mir drückte sie ein kleines Eimerchen in die Hand. Ein Aluminiumeimerchen mit einem Deckel, da war Mirabellenkompott drin. Das hatte meine Mutter gekocht. Und ich habe das Eimerchen genommen, und dann sind wir da raus. Wir krochen durch den Keller. Niemand war mehr da. Eine unglaubliche Geräuschkulisse! Es ist eben die Hölle, es ist das Höllenfeuer. In der Hölle ist es laut, nicht nur heiß. Der Feuersturm brüllt!
Wir kamen zwar aus dem Nachbarhaus raus, auf den Hinterhof, aber von dort aus nicht auf die Straße. Es gab aber keinen anderen Weg. Also sind wir - nicht metaphorisch gesprochen, sondern wirklich - durch das Feuer gelaufen. Wir hatten nasse Tücher dabei, die hielten wir uns nun vor das Gesicht, und wir kamen durch. Wir brannten nicht und liefen am Rande der Straße in Richtung der nächsten großen Straße. Da war die Hochbahnbrücke und der Kanal. Es gab in Hammerbrook genauso viele Kanäle wie Straßen. Die sind inzwischen alle zugeschüttet.
Aber es war nicht leicht, durch die Straßen zu laufen: Der Feuersturm war so stark, daß er die Straßen in Düsen verwandelte. Die Schwabenstraße, in der wir wohnten, lag günstig, quer zum Sog des Feuers. Sowie man aber in eine Straße kam, die mitten im Sog war, dann brannten die Leute weg wie Zunder und hatten überhaupt keine Chance. Wir rannten also an der Wand lang, um nicht in den Orkan reinzukommen. Ich sah, wie Dächer durch die Luft flogen; es war wie im Film, wie Science-Fiction, aber echt. Wo Asphalt war, da brannte und kochte der. Ich sah zwei Frauen, eine jüngere und eine ältere, die rannten quer über den Asphalt und blieben mit ihren Schuhen stecken, im kochenden Asphalt, sie zogen ihre Füße aus den Schuhen raus - was aber irgendwie unpraktisch war, weil sie dann mit den Füßen in den kochenden Asphalt treten mussten. Und die sanken um und blieben liegen. Wie Fliegen im heißen Wachs einer Kerze.
Wir mussten ja weiter. In so einer Situation denkt man nicht über das Leben und über die Leiden anderer Menschen nach. Und dann kamen wir zu einer Fabrik, die kannte ich gut. Ich war da oft rumgestreunt, hatte Eisenstücke geklaut und mir in die Tasche gesteckt: für meinen Vater, wenn er wieder aus dem Gefängnis kommen würde. Er war Schlosser und Maschinenbauer und er hatte Werkzeuge. Ich kam immer mit vollen Taschen nach Hause, die Hosen hingen mir in den Knien. Aber nun war alles anders, mitten in der Nacht, hell erleuchtet von den Flammen, und auf dem Hof dieser Fabrik rannten die Leute wie die Wahnsinnigen hin und her. Keiner wusste wohin. Alle schrien durcheinander - bis auf die Kinder. Das viel mir auf, schon damals und das wundert mich noch heute, dass sowas einem Kind auffällt, nämlich: Kein Kind hat geschrien. Kein einziges Kind hat geweint. Kein einziges Kind hat gejammert. Ich glaube, es kommt daher, dass man ganz automatisch, wenn das Unglück zu groß ist, die Gefahr zu groß ist, wie ein kleines Tier spürt, dass Schreien keinen Sinn mehr hat. Also vergeudet man keine Kräfte. Ob du schreist oder nicht schreist, es ist egal.
Ich habe auch nicht geschrien. Ich lief mit meiner Mutter, mit meinem Eimerchen durch diesen Hof, und man konnte so schlecht atmen. Die Tücher waren längst trocken. Man brauchte dringend Wasser. Also suchten die Leute Wasser für ihre Tücher. Die hatten alle irgendwas vor der Nase, sonst ging es gar nicht. Es gab eine Stahltür, und wir kamen in einen Raum, das war der Himmel. Da war die wunderbarste saubere Luft, die man atmen konnte! Also sind wir schnell da rein und haben die Tür hinter uns zugemacht. Wir freuten uns, aber über uns brannte die Fabrik, und plötzlich gab es eine Explosion. Der Raum war im selben Moment vollgeschlagen mit Qualm. Meine Mutter packte mich, und wir erreichten mit riesigem Glück diese Stahltür. Raus aus diesem Grab! Überall Feuer, und wir mussten wieder quer durch das Feuer rennen.
Was dann passierte, kann ich mir bis heute nicht erklären. Meine Mutter war weg. Die war einfach nicht mehr da. Ich wusste nicht, ob sie vor mir, hinter mir oder neben mir ist, oder vielleicht schon über mir im Himmel? Ich stand am Rand und hatte Glück, dass man mich nicht totgetrampelt hat; in ihrer Todesangst sind die Leute ziemlich wild und rücksichtslos. Ich stand so am Rand, neben dem Feuer, mit meinem Eimerchen und wartete wie an einer Haltestelle. Die Mama wird schon wiederkommen! Nicht Gott-, sondern Muttervertrauen. Ich wartete und wartete. Und es war klar: Ich war verloren. Ich würde da nie rausgekommen, nie, nie! Und plötzlich entdeckt mich meine Tante Lotte, die Schwester meiner Mutter, die mit uns im selbem Haus wohnte, und die schrie: "Emmiiiiii!" Sie schrie nach Emma, nach meiner Mutter Emmi. Und die muss noch in der Nähe gewesen sein und hat mich gepackt. Später sagte sie mir immer denselben Satz: "Wenn ich dich da nicht wiedergefunden hätte, wäre ich aus dem Feuer nicht rausgegangen." Das war keine Phrase, meine Mutter hatte schon meinen Vater verloren, im Feuer von Auschwitz - und jetzt noch mich in diesem Feuer?
Jedenfalls zogen wir weiter. Natürlich! Und da gab es, wie oft in kleinen Fabriken, in der Mitte des Hofs ein Haus, wo ein Pförtner sitzt oder die Verwaltung. Da flüchteten wir rein. Da saßen schon viele andere. Doch dann kam das Feuer immer näher. Auch hier kroch wieder, wie schon im Keller, das Feuer die Treppe runter, so eine Glut, die ganz langsam läuft, ohne Flammen, allein durch die Hitze. Und die Leute wussten: Das dauert hier auch nicht mehr lange, dann sind wir wie Hänsel und Gretel im Backofen. Also stiegen wir auf die Klodeckel, um oben im Spülkasten noch Wasser für unsere Tücher zu finden. Doch das war nichts mehr. Und dann haben wir halt unten im Klo gesucht und noch ein bisschen Wasser gefunden, haben uns die nassen Tücher vors Gesicht gehängt.
Wieder auf die Straße? Wer das versuchte, konnte sich gleich ins Feuergebläse setzen. Das war Selbstmord. Das ging nicht. Aber wir mussten weg da. Wir gingen links um die Ecke, dort kam der Kanal, die Brücke. Meine Mutter versuchte, an der Brücke mit mir runter zum Wasser zu kommen. Wir sind durch das Geländer gekrochen, die Böschung runter und haben endlich das Wasser erreicht. Ich immer noch mit meinem Eimerchen - und plötzlich war ich weg! Da war überhaupt kein Boden, das ging dort steil runter. Meine Mutter hing über mir am Geländer. Als ich wieder hochkam, packte sie mich am Schopf oder an der Jacke und zog mich raus aus dem Wasser. Wir wieder die Böschung hoch! Da war kein Durchkommen! Nun triefte ich, war nass, was ja sehr gut war gegen das Feuer. Es war klar, wir mussten durch dieses Gebläse hindurch. Also hat sich meine Mutter ein Herz gefasst, und dann sind wir über diese Straße gerannt. Ich jetzt schön geschützt durch das Wasser vom Kanal. Und auf der anderen Seiten war auch eine steile Böschung. Da stand ein großer Pfeiler von der Hochbahn, im halbtiefen Kanalwasser. An diesem Pfeiler hing eine Traube von Menschen, alle hielten sich dort fest, weil sie im Wasser stehen wollten, um nicht zu verbrennen.
Es gab welche, die mit Phosphor übergossen waren, das habe ich gesehen: Die brannten wie die Fackeln und sprangen ins Wasser, damit sie nicht weiterbrennen. Doch wenn sie hochkamen, brannten sie weiter, weil es eine bestimmte Sorte von Phosphor war, wie ich später gelernt habe. Das heißt, es nützte gar nichts, dass sie ins Wasser sprangen. Aber wir hatten zum Glück ja kein Phosphor an uns, krochen durch das Geländer, und ein junger Mann in Uniform wollte uns helfen. In dem Moment fällt von der Brücke irgendein Teil runter und zermatscht vor unseren Augen diesen Mann. Der blieb da liegen, dem konnten wir auch nicht mehr helfen. Wir erreichten das Wasser, ergatterten am Rande dieser Menschentraube einen Platz und standen dann im Wasser. Und ich stand neben einer alten Frau, die hatte an jedem Finger irgend ein Täschchen und ein Köfferchen, alles, was sie so gekrallt hatte. Und das schwamm nun oben auf dem Wasser. Ich sah alles aus der niedrigen Perspektive, ich war auf der Höhe ihrer Hand mit meinem Kopf. Und da sehe ich plötzlich direkt vor mir, wie die Finger dieser Frau kraftlos werden und der Koffer wegschwimmt - und wie die Frau untergeht. Die war dann weg.
Immer mehr Teile fielen von oben runter, es war klar, dass man da auch nicht bleiben konnte. Einige blieben stehen, weil ihnen nichts Besseres einfiel, aber meine Mutter hatte das Gefühl, dass wir da wegmussten. Und dann hat sie mich auf die Schultern genommen und ist mir quer über den Kanal rüber, ist mit mir da rübergeschwommen. Und drüben war eine Idylle! Da war Gras, da war eine sanfte Böschung und da lag schon ein Dutzend Leute, die sich auch dorthin gerettet hatten. Die saßen da wie in einer Loge: Von oben konnte nichts mehr runterfallen und rundherum das Panorama einer brennenden Stadt, beobachtet aus sicherer Position. Wunderbar! Ob Sie es glauben oder nicht, es ist die Wahrheit, ich hatte mein Eimerchen immer noch in der Hand. Und weil da so ein schöner Deckel drauf war, war auch nichts Schlimmes passiert, auch nicht mal, als ich abgesoffen bin, auf der falschen Seite der Brücke. Der Deckel wurde geöffnet, und es war das wunderbarste Mirabellenkompott meines Lebens, kein Wunder, wenn man einen verätzten Rachen hat, vom Rauch, vom Feuer, von all dem Dreck, von all der Angst! Der Eimer wurde herumgereicht, jeder, der da nun gerade war, durfte einen Schluck daraus trinken, von dieser süßen Pampe. Es war der Himmel auf Erden, mitten in der Hölle!
So habe ich dann den Morgen kommen sehen, der natürlich nicht kam, weil über der Stadt ein schwarzer Rauchteppich hing. Von Sonne war nichts zu sehen. Es war dunkler als am dunkelsten Hamburger Regentag. Es war im Grunde Nacht. Es war in der Nacht heller gewesen als jetzt am Tag, denn in der Nacht brannten die Fackeln der Häuser. Das war genug an Beleuchtung.
Die Überlebenden sammelten sich später auf der Moorweide in der Nähe des Hamburger Dammtor-Bahnhofs?
Biermann: Die Überlebenden krochen aus diesem Inferno heraus und wurden gesammelt auf der Moorweide neben der Universität, einer schönen, großen, alten Parkanlage mit mächtigen Bäumen. Ich wusste damals nicht, konnte es nicht wissen, dass wir durch Zufall auf genau der Wiese gelandet waren, wo die Juden von Hamburg - also auch meine Großmutter Luise, mein Großvater John, mein Onkel Kalli, meine Tante Rosi, mein Cousin, der kleine Peter - sich 1941, nur zwei Jahre vorher, hatten sammeln müssen, zum Abtransport in Viehwaggons in die Todeslager nach Minsk, wo sie - wie ich inzwischen weiß - in den Wäldern erschossen wurden. Ich muss zugeben, sowas kann sich kein Dichter ausdenken: Dass ausgerechnet auf der Wiese, wo die Deutschen die Juden in den Tod geschickt haben, die Überlebenden dieses Bombenangriffs sich dann sammelten.
Sie haben einmal notiert, dass sich dieses Ereignis eingebrannt hat wie sonst nichts in Ihrem Leben, ja, dass Ihre "Lebensuhr" stehengeblieben sei "im Feuergebläse dieser einen Nacht". Sie waren damals sechseinhalb. Gilt es für Sie immer noch?
Biermann: Ach, danach sollten Sie mich nicht fragen, denn über niemanden irrt man sich so grotesk wie über sich selber. Ich bilde mir ein, dass in dieser Nacht wahrscheinlich der Grundstein dafür gelegt wurde, dass ich Lieder und Gedichte schreibe. Ich will Ihnen sagen warum: Sie kennen das Foto von der Uhr in Hiroshima, die im Moment der Explosion festgeschmolzen ist. Als ich dieses Foto sah, da dachte ich plötzlich: "Ach, das bin ich ja!" Meine kleine Lebensuhr, in meiner Menschenbrust, ist auch festgebrannt in dieser Nacht. Und wenn ich nicht die Welt immer auch noch zumindest mit einem Kinderauge anschauen würde, also naiv, dann könnte ich nicht solche Gedichte und Lieder schreiben. Dann müsste ich zur Strafe Prosa schreiben...
Über diese Nacht könnten Sie einen Roman schreiben - wenn Sie einen Roman schreiben könnten, haben Sie einmal gesagt. Wie würde der aussehen?
Biermann: Natürlich wäre der Pfiff, der Reiz, der Witz an dieser traurigen Geschichte die raffinierte Verknüpfung des großen historischen Vorgangs und der kleinen Brandblase auf der eigenen Brust, dass man diesen schreienden Widerspruch mit literarischem Leben erfüllt, dass die Strafe nicht der Götter, sondern der Menschen vom Himmel runterfällt: das Gottesgericht als Menschengericht, durch Bomber präsentiert. Und dass man hin- und hergerissen ist, zwischen Freude und Entsetzen, dass man den Tod riskieren muss, um überhaupt eine Überlebenschance zu haben. Dazu reichte die Perspektive eines Kindes vielleicht nicht aus. Es wäre interessant, denselben Vorgang aus der Perspektive eines kleines Jungen und einer Arbeiterfrau zu schildern, die weiß, dass ihr Mann gerade durch den Schornstein in Auschwitz gegangen ist und als Rauch in diesem verrauchten Himmel schon zuguckt, von oben. Das wäre, wenn ich denn einen Roman schreiben müsste, der raffinierte Drehpunkt, der die Sache dann auch interessant für andere Menschen macht. Denn nur Wunden vorzeigen, nur zeigen, wie schlimm es alles war und wie schrecklich - das ist die erste naive und menschliche Reaktion, aber nicht hinreichend für große Literatur. Und wenn man über sowas schon schreibt, dann reicht es nicht, dass das Feuer so groß war und dass das Entsetzen so gewaltig. Da muss man schon Literatur liefern.
Es gibt nur wenige, die das alles - beglaubigt durch die eigene Biographie - zusammenbringen können wie Sie: mit dieser verdoppelten Erfahrung des Grauens. Vielleicht auch daher die Lücke in der deutschen Literatur? Traute sich deswegen kaum einer heran an die Beschreibung des Luftkriegs, immerhin eine Erfahrung, die Millionen Menschen geprägt und traumatisiert hat?
Biermann: Das weiß ich nicht. Ich glaube, es gibt viele mögliche Perspektiven dafür. Natürlich spielt eine emotionale Rolle im lähmenden Sinne, dass die meisten Deutschen die gerechte Strafe auf den Kopf gekriegt haben. Sei es, weil sie Verbrecher, Mörder und Mitmacher waren, sei es, weil sie alles mit angesehen haben und nicht sich tapfer gewehrt haben - also eine Art schuldlose Schuld doch auf ihrer Seele herumtragen. Und das fasst man nicht gern an. Das ist auch der Grund, warum sie nicht gern darüber sprechen: Weil es so gerecht war! Weil es so gut war, das Schlechte! Das spüren sie. Und die anderen haben es nicht erlebt. Die saßen im Schützengraben. Für die ist eine Stalinorgel eine ganz andere Musik als das Brummen der fliegenden Festungen.
Was denken Sie heute über den militärischen Nutzen dieser Angriffe?
Biermann: Ich weiß, dass es bis heute den Streit gibt, ob man Dresden bombardieren durfte, wo doch schon alles entschieden war. Durfte man Hiroshima noch plattmachen, wo doch die Japaner schon aus dem letzten Loch pfiffen? Das ist eine zu schwere und zu komplexe Frage für mich. Ich werde den Teufel tun und dazu ja oder nein zu sagen. Natürlich tut es mir leid, dass so eine schöne Stadt wie Dresden, wo ich heute noch gute Freunde habe, vernichtet worden ist, mit vielen unschuldigen Menschen. Wer sich über sowas freut, muss doch eine Bestie sein. Dennoch: Das einzige, was ich diesen Bombenflugzeugen der Alliierten wirklich vorwerfe, und nicht nur ich - dass sie nicht mal ein paar kleine Bömbchen übrig hatten, um die Gaskammern zu zerstören, in denen mein Vater vergast wurde. Und die Schienen zu zerschlagen, und die Brücken, auf denen die Todeszüge mit Millionen Menschen in die Todesfabriken geschafft wurden. Die Bomben wären dort im Sinne der Humanität besser verbraucht worden als für Dresden. Das ist klar.
Lässt sich über all diese Schrecken überhaupt anders als dokumentarisch oder autobiographisch schreiben?
Biermann: Die Frage ist uralt und hat mit dem Thema dieser Bombengeschichte wenig zu tun. Die großen Schriftsteller haben immer über schreckliche Dinge geschrieben. Denken Sie an Grimmelshausen, an den Dreißigjährigen Krieg, wo auch geschlachtet wurde. Wenn man ein großer Dichter ist, dann kann man immer große Kunst machen, aus den großen Leiden der Menschen. Die Größe der Leiden spielt fast keine Rolle. Man muss auch nicht selber da drin gesessen haben. Das hindert ja auch zum Teil, weil man überwältigt wird, von den eigenen Emotionen und Konfusionen. Man muss ein großer Dichter sein. Und das wird nicht ausgesucht nach Leidensanteil, originalen Wunden. Das ist ungerecht, aber so ist es. Und so bleibt es auch. Und so soll es auch bleiben.
Klaus Harpprecht hat geschrieben: "Das Schweigen verbarg vielleicht eine Scham, die kostbarer ist, als alle Literatur."
Biermann: Das ist schlechte Literatur.
Also kein Erzähltabu, in dem Sinne, dass jemand aus dem Tätervolk sich hüten sollte, auch diese Leidenserfahrung im Luftschutzkeller darzustellen?
Biermann: Das ist alles sentimentaler Quatsch. Wenn sein Vater ein SS-Obersturmbannführer war oder sein Onkel, na und? Dann ist das eben der Impetus, der Stachel. Hegel hat das doch längst prima formuliert: Um Gedichte zu schreiben - aber das betrifft auch andere Kunstwerke - muss man im Zustand der Begeisterung sein. Es gibt auch sowas, wie eine schwarze, eine negative, eine böse Begeisterung, nämlich das Entsetzen. Auf jeden Fall eine heftige Gemütsbewegung. Und wenn diese heftige, emotionale Beziehung provoziert wird, durch den Zufall der Geburt, aus einem Nazinest, in dem man ausgebrütet wurde, na bitte! Am Ende ist es doch ein Mensch und erfindet die Welt von vorne. Er ist etwas Gemachtes, durch seine Leute, durch seine Eltern, durch seine Umwelt, aber auch einer, der sich selber macht. Und so einer wird unter Umständen viel menschlicher, gegen das, was ihm da aufgeladen wurde, als irgendeiner, der gemütlich von sich sagen kann: "Ich bin ja sowieso schon auf der richtigen Seite, ich bin ein prima Junge."