Sibylle Berg

Wünsche für 2019 Ruhe am anderen Ende der Leitung

Sich nicht zu ernst zu nehmen. Wie einfach das klingt, wie schwer das scheint. Und wie unglaublich hilfreich es wäre, um uns allen das Leben zu erleichtern - 2019 erst recht.
Neujahrsfeier am New Yorker Times Square

Neujahrsfeier am New Yorker Times Square

Foto: Adam Hunger/ dpa

Es war so seltsam still die letzten zwei Wochen des vergangenen Jahres. Von der Frage, ob man mit Böllern Krieg spielen darf oder nicht, abgesehen. Fast - friedlich?

Es schien, als ob alle Menschen eine Droge eingenommen hätten. Punkt zwölf am 23. Dezember. Dann starrten sie sich alle in ihren Spiegeln an, glasig: Was ist das denn, dachten sie, und begannen, sehr lange zu lachen. Wie albern, so ein Mensch. Was ist das für eine niedliche Materie, die so flüchtig ist. Kaum geboren, schon wieder verschwunden. Lachten sie. Und wegen dieser kleinen Biomasse machen wir so ein Theater? Kaum hat man sie, ist man schon wieder Humus.

Die Leute sahen sich. Sie waren. Unwichtig geworden. Benommen schwankten sie unter den Weihnachtsbaum oder was immer Symbol ihrer Traditionen sein mag. Und nahmen sich nicht mehr ernst. Sie spielten mit den Kindern, verschlangen Essen, soffen sich die Rübe weg, rollten auf dem Teppich und fühlten zum ersten Mal seit Langem, wie wunderbar leicht es war, nicht allein im Besitz der einzigen Wahrheit zu sein.

Hey, prusteten sie ins Telefon, am anderen Ende der Parteigenosse, der Attentäter, der Gauleiter - was ist, wenn wir es einfach lassen. Wir lassen das mit Weltherrschaft, Welteroberung, der einzig richtigen Diktatur - was auch immer, wir lassen einfach alle in Ruhe und sehen zu, dass wir unsere Zeit hier mit sinnvolleren Sachen herumbringen.

Alter, wir sind über 30!

Wir könnten, statt zu pöbeln und Menschen zu überwachen, statt in Regierungen zum Putsch aufzurufen, statt Angst zu verbreiten und uns bedrohliche Nachrichten auszudenken, einfach ein wenig im Garten arbeiten. Oder einen Hund kaufen und mit dem spielen. Wir könnten in den Wald fahren und die drei Vögel beobachten, die wir noch nicht ausgerottet haben. Wir könnten einfach - nett sein. Ruhe am anderen Ende der Leitung.

Wie nett sein? Na ja nett. Einfach alle in Ruhe lassen, ich meine, man sieht sich ja vielleicht bald wieder. Im Grab oder im Himmel, falls man daran glaubt oder gar nicht, auf jeden Fall sind wir alle schneller tot, als wir uns das vorstellen können.

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Berg, Sibylle

Wunderbare Jahre: Als wir noch die Welt bereisten

Verlag: Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Seitenzahl: 192
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06.06.2023 09.48 Uhr

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Sollen doch die Jungen den Scheiß unter sich ausmachen. Sollen sie glauben, das Leben dauere endlos lange und darum müssten sie sich anstrengen und studieren und die Welt retten und all das. Aber wir, Alter, wir sind über 30 und sollten es doch besser wissen. Lass uns das Nötigste tun, keinen Schaden anrichten und die Klappe halten.

Und so kam es, dass am Ende des Jahres Ruhe herrschte. Keine Nazidemos, keine Breitbart-Ausgaben, keine Reichsbürger, Terroristen, keine Morde, Überfälle. Frau Le Pen erfand ein paar neue Tanzschritte, die sie Frau von Storch per Livecam zeigte, einige Hassprediger begannen, Handarbeiten zu machen, die sie in entsprechenden Foren anboten, diverse Diktatoren trafen sich zum Drogenkonsum mit anschließendem Herumliegen auf Wiesen, sie kündigten im Anschluss ihre Jobs. Viele Plattforminhaber fragten sich: WTF. Wozu brauche ich eigentlich noch mehr Milliarden, eine langt doch, und begannen ihre Mitarbeiterinnen ordentlich zu bezahlen und gingen im Anschluss ins Freibad.

Auf viele sinnlose Kämpfe!

Sich nicht zu ernst zu nehmen. Wie einfach das klingt, wie schwer das scheint, wie unglaublich hilfreich es wäre. Wie ruhig es sein könnte, wenn keiner glaubte, er müsse die Welt beherrschen, durch politische und oder finanzielle Überlegenheit. Wie erfreulich, wenn keiner einem anderen seine Ideen aufzwingen wollte. Wenn jeder essen könnte, was er will, und trinken und Sex haben und aktiv sein oder eben nicht. Ein wenig klugscheißen oder es eben sein lassen. Wenn jeder sich verdammt noch mal als flüchtiger, alberner Teil der Welt begreifen wollte und die Füße stillhielte. So wie es Ende des Jahres schien. Als seien alle auf dem Teppich eingeschlafen oder besoffen von Familien und Glocken und Lichtern.

Bis Silvester wieder Schwung in unser aller Erregungssystem kam. Alles geht also weiter wie immer. Mit dem Sichhassen, Sichschlagen, Sichüberfahrenwollen, dem menschenmöglichen Elend.

Prost. Ich wünsche Ihnen alles Liebe und viele gute sinnlose Kämpfe im neuen Jahr.

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