Zeitgeschichte Der Nobelpreis-Schwindel von Jena
Es hätte alles so schön sein können. Ernst Haeckel (1834-1919), Naturforscher und Verfasser bedeutender wissenschaftlicher Werke wie "Welträtsel" oder "Lebenswunder", hatte schon unzählige Preise und Ehrendoktorwürden erhalten, der Nobelpreis für Literatur wäre die Krönung seines Schaffens gewesen. 1908 sollte der Wissenschaftler aus Jena die renommierte Ehrung erhalten - angeblich. Glückwunsch-Telegramme von Kollegen aus Italien hatten ihn bereits erreicht, französische Zeitungen wie "La Republic" berichteten von seiner Auszeichnung. Dann die große Enttäuschung für Haeckel: Nicht er, sondern ein Jenaer Kollege, Philosophie-Professor Rudolf Eucken (1846-1926), bekam den Preis.
So weit die Legende. Wie ein Team von Wissenschaftlern nun herausgefunden hat, war Haeckel tatsächlich nie für den Nobelpreis vorgesehen. "Diese Legende, die sich bis heute gehalten hat, da Haeckel selbst ein begnadeter Propagandist in eigener Sache war, entbehrt jeder Grundlage", erklärt Uwe Hossfeld. Der Wissenschaftshistoriker von der Universität Jena hat zusammen mit seinem Kollegen Lennart Olsson den Briefwechsel Haeckels akribisch durchforstet und bei einem Forschungsaufenthalt in Schweden zusätzliches Beweismaterial sichergestellt. Es zeigt sich, dass Haeckel die Geschichte der möglichen Preisverleihung an ihn wohl selbst erfunden hat. Er fühlte sich übergangen, "weil ich als Vertreter des niederen Materialismus verworfen wurde".
Die untersuchten Briefe verdeutlichen, wie sehr Haeckel die Vergabe des Preises an Eucken enttäuscht hat: "Wie mein principieller Antipode Eucken dazu kommen sollte, ist den hiesigen Kollegen rätselhaft", vermerkt Haeckel. Eucken habe "schöne Bücher" geschrieben, aber "keine einzige originale Arbeit von Wert geleistet".
Vielleicht hätte es Haeckel getröstet, wenn er gewusst hätte, dass auch Eucken nicht die erste Wahl des Nobelpreis-Komitees war. Für die Verleihung im Jahr 1908 lagen insgesamt 16 Vorschläge vor. Wie Hossfeld berichtet, habe man sich nicht zwischen Selma Lagerlöf und Algernon Charles Swinburne entscheiden können und daher nach einem Kompromiss gesucht. Man einigte sich auf Eucken. Hossfeld dazu: "Dieser war zwar kein Literat, aber wenigstens, wie von Alfred Nobel testamentarisch verfügt, ein publizistisch umtriebiger Idealist."
Was die Forschung von Hossfeld und Olsson zeigt: Preisverleihungen haben schon immer zu Neid und Missgunst geführt, sogar unter altehrwürdigen Wissenschaftlern. Rudolf Eucken jedenfalls hat Ernst Haeckel zu seiner privaten Siegesfeier eingeladen, hingegangen ist Haeckel nicht.