Zum Tod von Claude Lévi-Strauss "Den Menschen gibt es nicht"

Denker Lévi-Strauss: Die Strukturen im Blick
Foto: PASCAL PAVANI/ AFPMan kennt provokante Sätze von ihm. Einer lautet: "Das Leben hat keinen Sinn." , der vielleicht wirkmächtigste des 20. Jahrhunderts, war deshalb kein Nihilist. Er meinte nur, mit ein paar alten Gepflogenheiten des wissenschaftlichen Denkens aufräumen zu müssen.
Da war zum Beispiel die bewährte Idee, dass das Subjekt autark seine Umwelt gestaltet, Herrscher im Haus der Sprache und seiner Psyche ist. Dieses Konzept hatte Anfang des 20. Jahrhunderts bereits Sigmund Freud mit seinem Konzept des Unbewussten erschüttert. Das spielt einem bekanntlich Streiche und dirigiert unser Handeln und Fühlen oft mehr, als wir uns eingestehen.
Und auch die Sprache war dank der Linguisten Ferdinand de Saussure und Roman Jakobson auf einmal auch nicht mehr das simple System von Wörtern, die den Sinn einfach so in sich tragen wie ein Gefäß einen bestimmten Inhalt. Sprache wurde unter dem Blick dieser neuen Wissenschaft zu einem Gewebe, in dem Bedeutung nicht mehr in den einzelnen Begriffen wohnt, sondern erst in der Differenz entsteht: Das bedeutet dies, weil es nicht jenes bedeutet.
Im Zeichen der Struktur
Freud und Jakobson waren die spekulativen Gewährsleute von Lévi-Strauss. Er nutzte ihr Denken für eine Revolution der Ethnologie und Kulturphilosophie. Als der am 28. November 1908 in Brüssel geborene Denker 1949 nach der Flucht vor dem antisemitischen Vichy-Regime nach Frankreich zurückkehrte, entstanden die ersten, programmatischen Studien, die seine neue Methode anwandten.
Lévi-Strauss' ethnologische Untersuchungen zum Inzestverbot und zu den "elementaren Strukturen der Verwandtschaft" stellten die bisherige Forschung auf den Kopf - beziehungsweise auf die Füße der die Menschen umgebenden Strukturen. Das in allen menschlichen Gemeinschaften gültige Verbot der Ehe zwischen Blutsverwandten zum Beispiel: Es war eben nicht eine aus moralischen oder biologistischen Gründen gespeiste Restriktion. Lévi-Strauss zeigte, dass in dem Moment, da die blutsverwandte Frau nicht mehr für die Triebabfuhr zur Verfügung steht, sie frei ist, an andere "weitergegeben", "getauscht" zu werden. Das heißt: Sie wird Teil einer kommunikativen Struktur von Gemeinschaften.
Das Wort vom sinnlosen Leben meint in dieser Perspektive: Es gibt keinen Sinnsouverän, der selbstherrlich agiert. Die Strukturen sind uns übergeordnet, wir werden gehandelt.
Differenz zum Mainstream
Als Lévi-Strauss diese neue Theorie konkretisierte, vor allem in seinem Hauptwerk, der "Strukturalen Anthropologie", da war er schon ein Star. 1955 hatte er seine brasilianischen Reise-Erlebnisse zu einem Text verarbeitet. "Traurige Tropen" heißt das schnell zusammengeschusterte Buch, es ist eine vor allem für die damalige Zeit verwegene Mischung aus Reisebericht, Roman, zivilisationskritischem Essay und intellektueller Autobiografie. Es wurde ein Riesenerfolg und war doch das Dokument eines Scheiterns.
Denn Strauss hatte nicht nur von der westlichen Welt arg beschädigte Kulturen angetroffen, er hatte auch keinen unmittelbaren authentischen Zugang zu seinem Gegenstand gefunden. "Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende" lautet deshalb der erste legendäre Satz des Buchs. Er ist auch als Credo des Wissenschaftlers zu verstehen, der nicht Einzelphänomene untersuchen, sondern Beziehungsgeflechte erforschen will.
Man musste dafür nicht vor Ort sein. Man konnte - wie Lévi-Strauss in der Zeit des amerikanischen Exils - in Büchern schmökern und das Vorgefundene strukturieren und lesbar machen. Die Verwandtschaftsbeziehungen von Indianern zum Beispiel, ihre Mythen und Rituale - sie wurden auf einmal Sprachen, die sich gemäß der strukturalen Methode als Zeichensystem entziffern ließen.
Besonders eindrucksvoll bewährte sich das Verfahren bei der Erforschung des Totemismus. Die ältere Ethnologie hatte geglaubt, das Totem sei ein Zeichen für den Wunsch nach metaphysischer Orientierung. Lévi-Strauss korrigierte: Mit der Wahl eines bestimmten Totemtiers wolle eine Gemeinschaft vor allem Differenz herstellen zu anderen Gemeinschaften. Nicht die Kraft des Bären ist also beim Totem entscheidend, sondern dass es nicht der Adler des Nachbarstammes ist. Der Effekt: Differenz - und damit Bedeutung und die Möglichkeit zur Verständigung.
Buhmann der 68er
Im Sinne der strukturalistischen Entsprechungen darf man nicht verschweigen, dass zur progressiven Leistung dieses Forschers die konservative Geste als Gegenpart gehört. So lehnte er beispielsweise die Aufnahme von Frauen in die Académie Française ab: "Jahrhundertealte Regeln ändert man nicht." Die Französische Revolution sei mitschuldig an den Verfehlungen der westlichen Welt; Rassismus sei insofern nachvollziehbar, als die Menschen nun mal an ihren Unterschieden festhielten.
Dass ihm der revolutionäre Drang der zuwider war, überrascht wenig. Umgekehrt kann, wer dem Subjekt als Akteur der Geschichte so kräftig am Zeug flickt, von demonstrierenden Studenten keine Sympathie erwarten: "Strukturen gehen nicht auf die Straße" schleuderte ihm die Intelligenz damals entgegen. Der Held dieser Jugend war eben , nicht ein Denker, der sagte: "Den Menschen gibt es nicht."
Den Menschen gab es sehr wohl - und entgegen der strukturalistischen Vorsicht gegenüber allem, was Sinn in essentieller Weise repräsentieren will, muss gesagt sein: In der Nacht vom vergangenen Samstag auf Sonntag ist einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts gestorben.