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WAHLKAMPF Gespenstische Kulisse

Mit Brecht-Texten und Pappmasken schleppt sich der »Anachronistische Zug« gegen Franz Josef Strauß durch Deutschland -- die Justiz ist immer dabei.
aus DER SPIEGEL 39/1980

Wie die Teilnehmer des »Anachronistischen Zuges« ihren Tageslauf beginnen, das zeigt schon Drill. Kaum hatte, am Vormittag des vergangenen Mittwochs, eine schmächtige Dame im Parka den Befehl »Aufsitzen« ins Megaphon gehaucht, da spurteten die 180 im Laufschritt los.

So behende schnallte sich der Strauß-Darsteller einen künstlichen Wanst vor den Bauch, so flink schlüpfte ein Kollege in die rote Robe eines Nazi-Blutrichters, und so routiniert kletterten sechs Kinder mit Stahlhelmen auf ihren Lastwagen, daß der Zug -- 16 Lkw, vier Luxuslimousinen, Motorradpulk und Troß -- fünf Minuten später losrollte.

Doch die Eile half wenig. Um zwölf Uhr mittags, knapp zwei Stunden später, stand der Konvoi noch immer im Münchner Vorort Allach.

Die Teilnehmer blieben gelassen. Denn »Der Anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy«, der seit vergangenen Montag das gleichnamige Gedicht von Bert Brecht 21 Tage lang zwischen Sonthofen und Bonn (geplante Ankunft: 5. Oktober) in Szene setzen und den Kanzlerkandidaten als Nazi-Geistesverwandten darstellen soll, ähnelt eher einer Springprozession im Kriechgang als einer machtvollen Manifestation. S.273

Die 41-Strophen-Allegorie Brechts aus dem Jahr 1947 schildert, wie »von Süden, aus den Tälern« sich »pomphaft ein zerlumpter Zug« aus Dienern und Nutznießern des Naziregimes auf den Weg durch Trümmerdeutschland macht. Vornweg tragen sie ihr neues Motto: »Und es war so etwas wie Freiheit und Democracy«.

Aus dieser Schlüsselzeile entwickeln die »Zug«-Regisseure ihre Agitation für den Wahlkampf '80. Auf die Lastwagen sind Plakate mit verfremdeten Variationen des Sinnspruchs montiert ("Freiheit statt Butter"). Pappmasken und gelegentlich groteske Kostüme der Teilnehmer symbolisieren die wieder mächtig gewordenen Bosse und Bonzen. Alle sind, so die Unterstellung, Geistesverwandte des Kanzlerkandidaten.

Die Entstehungsgeschichte des mit rund 500 000 Mark veranschlagten Zugs reicht zurück ins Vorjahr. Als, im Mai 1979, Karl Carstens zum Bundespräsidenten gekürt wurde, trug die in München ansässige Schauspielerin und Brecht-Tochter Hanne Hiob (54) das Epos in Bonn vor, mit den gleichen Masken und Figuren als Staffage.

Zum langen Marsch von Sonthofen in die Hauptstadt 1980 riefen in diesem Jahr unter anderen Wolfgang Abendroth und Heinrich Albertz, »Konkret«-Herausgeber Hermann Gremliza, Gewerkschafter Jakob Moneta und der SPD-Bundestagsabgeordnete Klaus Thüsing, Sänger Udo Lindenberg und Kabarettist Dieter Hildebrandt auf. Zug-Sprecherin Angela Kammrad: »Hinter uns stehen 56 Persönlichkeiten.«

Am vergangenen Montag, in Sonthofen, blockierte erst einmal Ortspfarrer Hermann Völck samt einer Handvoll wackerer Jung-Unionisten den Zug. Am Wagenheck eines Lkw nämlich prangte ein Ausspruch, der dem Regensburger Bischof Rudolf Graber in den Mund gelegt wurde: »Der Kampf gegen die Sünde kann nicht ohne Blut abgehen. Früher gegen den Halbmond, heute gegen Hammer und Sichel.«

Der zuständige Staatsanwalt äußerte sich vor Ort jedoch weniger zur Betroffenheit des Pfarrers als zu einem anderen Vehikel. Dort wird der Strauß-Darsteller im Umkreis von Hitler- und Göring-Puppen gezeigt; seit der staatsanwaltlichen Intervention darf sich der Kandidaten-Mime nicht mehr mit der Maske des CSU-Vorsitzenden schmücken.

Tags darauf, zwischen Sonthofen und München, stoppten Richter den Zug und verfügten, daß die Puppen selbst, wegen Tragens nationalsozialistischer Embleme, während der Fahrt mit einer Plane zu verhängen seien. Wenn allerdings das Brecht-Gedicht vom stehenden Zug aus und wie im Fahrplan vorgesehen rezitiert wird, dann könnten die Pappkameraden als Teil eines Kunstwerks gelten. Ungeklärt S.274 blieb nämlich bislang, ob das Spektakel politische Demonstration oder mobiles Kunstwerk sei, das -- künstlerische Freiheit -- zum Beispiel Nazi-Insignien führen dürfte.

Am Mittwochmorgen -- neue Variante -- erhoben bayrische Ministeriale Einspruch gegen die Nummernschilder ("Siemens 1«, »Krupp 1") an den verhängten Limousinen, die für Brechts »schnelle Herren von den Kartellen« stehen sollen.

In Burghausen schließlich gab, in der Abenddämmerung, die Behörde dem unerwünschten Anachronismus Gelegenheit zur Selbstdarstellung. Weil ein eifriger Staatsanwalt auf einem vorab in dem 17 000-Seelen-Städtchen verteilten Flugblatt eine Beleidigung des bayrischen Ministerpräsidenten ortete -- eine Karikatur zeigt den Kandidaten in Führerpose mit angewinkeltem, wenn auch linkem Arm --, stoppte der Konvoi lange genug, daß die Chaussee wieder mal zur Bühne werden konnte.

Starr und dreist lehnte sich in seinem Kübelwagen ein General mit Silberkinn und goldner Hand zurück -- er symbolisiert Brechts »Sattelkopf": »Und er sang aus vollem Kropf: Allons, enfants, god save the king und den Dollar, kling kling kling.«

Unter der Tafel »Freiheit statt Spandau« -- damit wird auf das Gefängnis des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß angespielt -- dräuten die Nazi-Blutrichter in Rot und ihre zeitgemäßeren Kollegen in Schwarz.

Huldvoll winkte eine Karl-Carstens-Maske aus ihrer Staatskarosse, fest und feist stand das Strauß-Double in seinem Fahrzeug, und endlos klang dazu der bayrische Defiliermarsch, abwechselnd mit dem Lied vom Westerwald -- das unfreiwillige Intermezzo geriet zur Probe für den ersten Höhepunkt:

Am Donnerstagabend rezitierte Hanne Hiob die Verse ihres Vaters von der Tribüne des ehemaligen Reichsparteitag-Geländes in Nürnberg. Die Schauspielerin, schwarz gewandet, stand da, wo Hitler seine Reden zu halten pflegte.

Eine gespenstischere Kulisse für den Zug gibt es nirgendwo. Vor der leergefegten Tribüne paradierten Darsteller in Ärztekitteln, die »inen Sträfling vor sich her stießen. Brecht: Folgen die Herrn » » Mediziner, Menschenverächter, Nazidiener, Fordernd, daß man » » ihnen buche Kommunisten für Versuche. »

Mit Stechschritt und kokettem Getrippel zog etwa die Maske Marianne Strauß vorbei, und zu den Brecht-Versen »Künstler, Musiker, Dichterfürsten, schrei'nd nach Lorbeer und nach Würsten« schmetterte ein Doppel der Strauß-Wahlhelferin Erika Köth schrille Arien.

Den letzten Akt im Katz- und Maus-Spiel lieferten sich Ordnungshüter und S.276 Anachronisten am späten Freitag. Wenige Kilometer vor der Grenze zum Musterländle Baden-Württemberg wurde der Konvoi auf einer Landstraße gestoppt. Es ging wieder um die Flugblätter vom Mittwoch.

S.274

Folgen die Herrn Mediziner, Menschenverächter, Nazidiener, Fordernd,

daß man ihnen buche Kommunisten für Versuche.

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