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Autoren Geträumte Katastrophen

aus DER SPIEGEL 18/1994

Ein wackliger Tisch unter freiem Himmel, eine steile Schreibmaschine klackt und tackt, Tee zittert in schlanken Gläsern. An manchen Orten der Türkei kann man ihn noch antreffen, den Mann fürs Schriftliche, den »Gesucheschreiber«, eine respektable Gestalt.

»Diktieren« läßt er sich nichts! Mit ernster Miene hört er sich gestikulierende Bürgersleute an, um dann für deren Wünsche oder Klagen Formulierungen zu finden, wie sie bei der Behörde gut verstanden werden. Und zuweilen fügt er ein in Vergessenheit geratenes Wort aus der osmanischen Kanzleisprache ein, um »die Macht seiner Feder zu demonstrieren«.

In Güney Dals Roman »Eine kurze Reise nach Gallipoli"* ereignet sich beim Gesucheschreiber eine Szene, die zunächst kaum auffällt und sich später als erzählerischer Angelpunkt des Buches herausstellt.

Der Held, Burak Dogu aus Istanbul, spaziert tief in gesundheitliche und andere Sorgen versunken durch seine Geburtsstadt, als er beim Rathaus einen gewissen Inan Ince sieht, einen schrecklich _(* Güney Dal: »Eine kurze Reise nach ) _(Gallipoli«. Aus dem Türkischen von Carl ) _(Koß. Piper Verlag, München; 224 Seiten; ) _(34 Mark. ) langen und dünnen Mann von wirrem Aussehen, der sich eine Bewerbung tippen läßt. Ein kleines Mißverständnis jetzt: Inan denkt, Burak warte auch auf die Dienste des Schreibers, Burak geht rasch weiter, um nicht zu stören. Der sonderbare Heilige, der Buraks Sorgenmiene gesehen hat und fragen will, ob er helfen oder raten kann, läuft ihm ein paar Schritte nach, zu spät, Burak ist in Richtung Hafen verschwunden.

Sie haben sich nie zuvor getroffen, sie werden sich nie wiedersehen. Als es aber mit Burak zu Ende geht, wird jener Inan in seiner Phantasie zu einem Leidensbruder, einem Todeszwilling; erst mit Hilfe dieses meistenteils phantasierten anderen kann er sich von der unendlichen, wunderbaren, schrecklichen Welt verabschieden, die ihm während der Reise in den Tod erst aufgeht. Wie Güney Dal diese Welt, die hellsichtige Verrücktheit des Todes, um jene unscheinbare Schlüsselszene herum aufbaut, listig, behutsam, unaufdringlich, auf Katzenpfoten sozusagen, in denen sich die Krallen noch verbergen - das ist meisterhaft.

Dogu, über 50, ist hoher Bankangestellter und Sonntagsmaler. Er lebt seit Jahrzehnten in Istanbul ein nichts weiter als ordentliches, ja pedantisches Leben, das sich in höchstpersönlichen »Dreijahresplänen« vollzieht, gestört nur durch eine herrschsüchtige Mutter, die ihn wahlweise durch Tränenströme oder durch eisige Abwehr zu beeinflussen versuchte - bis er sie dann eines Tages, vor Angst stockbetrunken, verlassen hat.

Neuerdings wird seine Diabetes deutlicher, er muß irgendwelche Tropfen nehmen. Mehr oder weniger skurrile körperliche Schwierigkeiten und Hypochondrien stellen sich ein, vor allem aber auch Gleichgültigkeit. Da liest er einen Brief seiner Kusine aus Gallipoli, den er vor Monaten achtlos an die Staffelei gehängt hat, erstmals genau. In ihm ist von einer »Nermin« die Rede, die wiederaufgetaucht sei.

Das war seine Jugendliebe, er versteht übrigens immer noch nicht, warum eigentlich: Einen Mund hatte sie wie ein Fisch, Pickel wie ein Streuselkuchen, aber sobald er sie sah, wurden ihm die Knie weich. Als er ihr damals etwas hölzern seine Liebe zu erklären und sie zu küssen versuchte, lief sie erschrocken davon, und er ging ab sofort wie ein Süchtiger ins Kino, »auf der Suche nach einem passenden Ausgang für seine eigene Liebesgeschichte«.

Nun tritt er an einem fürchterlich heißen Tag aus seinem Istanbuler Haus und macht sich auf die Reise nach Gallipoli - die erdichtete Stadt, ein Flickwerk aus der Menschenlandschaft von Jahrhunderten, beschrieben mit sanftem Humor, aber auch mit Sinn fürs krachend Groteske. Sagen und Legenden aus der Kleinstadtgeschichte, dazu mythische Gestalten der Kindheit und manch prächtige Übertreibung aus dem Garn der Fischer - all das bildet im Kopf des malenden Bankiers »sein« Gallipoli und damit die Romanstadt Güney Dals.

Denn aus Geschichten besteht sie, aus nichts als Geschichten: Geschichten vom Neuankommen, Bleiben, Gehen und Zurückkommen. Dazu der wehmütige Blick auf den versunkenen Kosmopolitismus, auf das ebenso neugierige wie respektvolle Zusammenleben von Türken, Juden, Griechen. Das ist überzeugend, federleicht und spielerisch eingefangen.

Etwa die »Kraftwerksgasse«, in der Buraks Tante wohnt: Irgendwann hat die Regierung die Stadt mit einer riesigen Generatorenanlage beglückt, einem brüllenden Monster des Fortschritts, und wer in der daneben gelegenen Gasse wohnte, wurde taub und verständigte sich nur noch in einer Lautstärke, die für normale Ohren Gefahr bedeutete. Inzwischen ist das Kraftwerk verstummt, aber die Gassenpsychologie und die mächtigen Stimmen sind geblieben, zusammen mit etwas Wehmut darüber, daß die Gasse selbst »ihre Stimme verloren« habe.

Als die Tante Burak erkennt, ruft sie freudig bewegt seinen Namen aus, was noch im entfernten Hafen die Möwen erschreckt aufflattern läßt. Der gesamte Ort weiß jetzt, daß Burak wieder da ist, auch der ungeschlachte Kerim, einer der Hiergebliebenen, den man in der Schule wegen knochenbrechender Fußballerqualitäten den »Schlachter« nannte, ein schwermütiger Dinosaurier.

Eine Zeit lang war Kerim Fischer, schüttete immer mehr Raki in seinen Riesenkörper, gebeutelt von schrecklicher, immer noch zunehmender, dabei ganz unerklärlicher Todesangst. Heute ist er der Ambulanzfahrer des Stadtkrankenhauses, denn der Umgang mit Verletzten und Sterbenden nimmt ihm, ebenso unerklärlich, seine Ängste. Mit diesem Kerim wird Burak sitzen und bis zum Umfallen trinken, was im allgemeinen nicht empfohlen wird, wenn einer Diabetes hat und keine Arznei.

Beim Lesen des ersten Romanteils hatte ich nie die Befürchtung, Dal könnte sich in dieser Fülle der Schnurren, Gemmen und Ikonen verlieren. Zu verläßlich ist die Disziplin dieses Autors, sein Sinn für den Punkt, an dem jedes Mehr ein Weniger wäre. Aber eine andere Frage taucht auf: Wird es da eine Steigerung geben können, und wie sollte sie aussehen?

Der zweite Teil ist bewegender, erfinderischer und spannender als der erste, obwohl, nein, sogar weil er dem flüchtigen Leserauge durch eine zunächst ungewohnte Kleinschreibung Widerstand entgegensetzt.

Die Sache ist so: Burak stößt auf eine Spur des dünnen Inan Ince, des Mannes, den er beim Gesucheschreiber gesehen hat. Der sei, so heißt es, von einem Pferdefuhrwerk überfahren und schwer verletzt worden. In Kerims Unfallwagen findet Burak jene Bewerbung, die Inan sich mit der Maschine hat schreiben lassen, dazu ein Häufchen blutbefleckter, handbekritzelter Blätter.

Als Burak sich von der Todesangst abzulenken versucht (er ist seinem eigenen Ende durch das Trinkgelage ein gutes Stück nähergekommen), ordnet er die Blätter und beginnt zu lesen. Eigentlich hatte dieses Manuskript ein Lebenslauf werden und die Bewerbung begleiten sollen. Aber Inan hat eine sehr spezielle Vita mitzuteilen.

Er ist mit einer schrecklichen Gabe ausgestattet, die sein Leben bestimmt: Sobald er von einer Katastrophe irgendwo auf der Welt hört oder liest, befallen ihn quälende Zustände, bis er in den Schlaf sinkt und die ganze Katastrophe träumt, als Beteiligter, und zwar mit realistischen Details, die ihm von nirgendwoher bekannt sein können. Wenn er aber, was selten vorkommt, einen schönen, friedlichen Traum hat, dann bedeutet das ebenfalls nichts Gutes: Letztes Mal fiel am selben Tag seine Mutter in den Brunnen und ertrank.

Ein Lieblingsgedanke Dals, der bereits den Roman »Der enthaarte Affe« (1988) bestimmte: Das physische Leiden unter den Nachrichten vom Weltgeschehen ist hier noch souveräner und scheinbar mühelos umgesetzt in bittergenaue Schilderungen. Wie es vorm und beim Absturz eines amerikanischen Flugzeugs zuging, weiß Inan Ince sofort, denn im Traum sitzt er drin. Wie eine verhungernde Familie sich in Äthiopien südwärts schleppt und sowohl mit Geiern als auch westlichen Pressefotografen zu tun bekommt, das spürt er am eigenen Leib: Im Traum ist er der Vater.

Jetzt sind sie da, die Krallen aus der sanften Pfote. Aber auch wenn Güney Dal beweist, daß er drastisch werden, mit Schwere umgehen kann - alles bleibt erträglich durch eine kleine, wachsame Amüsiertheit des Blicks, seine Prosa behält den Hauch philosophischer Neugier, auch wenn es dick kommt.

Der Kette der Schmuckstücke im ersten Teil folgt also im zweiten eine Kette von geträumten Katastrophen, zu lesen auf den durch Blutflecken nicht mehr ganz tadellosen Blättern von Inan Ince. Burak ist es, der sich aus den wenigen Blättern die ganze Geschichte erliest, um sie seinem Leben hinzuzufügen. Lesend erst macht er selbst ein halbes Buch aus dem befleckten Gekritzel, denn er braucht diesen heiligen Narren, der ihn wahrnimmt, auch seinen kommenden Tod - den er mitstirbt.

Das ganze Ende des Buches ist von geheimnisvoller (aber nicht geheimnistuerischer) Entrücktheit, eine poetische Vision, die alles erfaßt und aufhebt: Welt, Burak, Inan, Gallipoli, Leben und sogar den Tod. Und das gehört zum angestammten Triumph der listigen Narrheit, die sich Literatur nennt.

Mir blieb nach der Lektüre der Wunsch, für Güney Dal bei Bedarf und Gelegenheit ein höchst ansehnliches Gesuch zu schreiben, wie es an zuständiger Stelle gut verstanden wird, mit eingestreuten älteren Floskeln, um die Macht meiner Feder zu beweisen. Y *VITA-KASTEN-1 *ÜBERSCHRIFT:

Die Langsamkeit *

ist sein poetisches Prinzip: Der Erzähler Sten Nadolny, 51, gilt weder als Schnell- noch als Vielschreiber. Seinem türkischen Kollegen Güney Dal, 49, bescheinigt er ähnliche Qualitäten: einen »Hauch philosophischer Neugier« und epische Krallen »aus der sanften Pfote«. Auch mit seinem neuen Roman »Eine kurze Reise nach Gallipoli« beweise Dal »Sinn für den Punkt, an dem jedes Mehr ein Weniger wäre«. Dal lebt seit 1972 in Berlin und wurde 1988 mit dem Roman »Der enthaarte Affe« bekannt. Nadolny schrieb mit dem historischen Epos »Die Entdeckung der Langsamkeit« (1983) ein höchst erfolgreiches Plädoyer für eine neue Bedächtigkeit der Wahrnehmung. Im August wird sein Roman »Ein Gott der Frechheit« erscheinen.

* Güney Dal: »Eine kurze Reise nach Gallipoli«. Aus dem Türkischenvon Carl Koß. Piper Verlag, München; 224 Seiten; 34 Mark.

Sten Nadolny
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