DIRIGENTEN »Gib mir, gib mir, mehr und mehr«
Es war im Goldenen Saal des Musikvereins zu Wien, im Tempel der Philharmoniker, und geboten wurde »Daphnis et Chloé« von Ravel. Die flirrenden Streicher, der Flöten sinnlicher Glanz, die ekstatische Steigerung zum ersten Fortissimo - gut, dass niemand im Orchester oder im Publikum ahnte, was den Dirigenten beim Dirigieren beflügelte.
Die Partitur allein war es ja nicht. »Ich habe unser Heiliges Tuch gerade noch erhalten, bevor ich die Stufen zum Musikverein hinaufstieg«, schrieb Arturo Toscanini, damals 69, an eine 30 Jahre jüngere Frau in Berlin. »Ich hütete es eifersüchtig in meiner Fracktasche, während ich das Konzert leitete. Es gab mir die wahre Inspiration. Ich bin verrückt vor Freude.«
Das mysteriöse Tuch war aus feinstem Gewebe und rot befleckt. Toscanini (1867 bis 1957) pflegte seinen Briefen an Ada Mainardi öfter ein frisches Ziertüchlein beizufügen, in Erwartung einer intimen Erwiderung. Die quittierte er dann enthusiastisch: »Hättest Du nur sehen können, wie meine Augen den zarten Schleier liebkosten, der bespritzt ist mit Deinem Blut!«
Signora Mainardi hatte sich aber nicht in den Finger geschnitten. »Ich fühle, dass Du mich nun weniger liebst, weil ich Dich zwang, mir das Tüchlein zuzusenden«, meldete Toscanini sich mit schlechtem Gewissen. »Du hältst mich wohl für einen Degenerierten. Nein, Ada, liebe mich und halte mich hoch in Deiner Achtung, ich verdiene es!« Schließlich sei es doch sie selbst, die ihn »zu diesen Exzessen treibt«. Er wolle von den Blutflecken nur erinnert werden an deren »köstliche Quelle«.
Der Brief nach dem Konzert ging an Frau Ada Mainardi, Pension Fürstenhaus, Kurfürstendamm 69, Berlin-Charlottenburg. Er stammt vom 16. November 1936 und gehört zu einem für Klassikfreaks sensationellen Konvolut von 700 Briefen, Postkarten und Telegrammen, das der Toscanini-Biograf Harvey Sachs zusammengestellt hat*. Dabei handelt es sich aber keineswegs um Resteverwertung.
Als Sachs 1978 sein erstes Buch über den Maestro assoluto vorlegte, musste er bedauernd anmerken: »Toscanini schrieb selten Briefe, und die waren wenig informativ.«
Da wusste der Amerikaner noch nichts von den verborgenen Schätzen, die er Jahrzehnte später mit dem Einverständnis des Toscanini-Enkels Walfredo auswerten durfte. Dessen Großvater war, wenn Liebe, Triebe oder Hass ihm die Feder führten, ein manischer, ja vulkanischer Briefeschreiber.
Und das Interesse an seinen Eruptionen ist mächtig. Der kleinwüchsige Schneiderssohn aus Parma, geboren 1867, war der erste und letzte Pult-Diktator, der das Musikleben beiderseits des Atlantik zu dominieren vermochte. Toscanini vergraulte Gustav Mahler, Willem Mengelberg und Wilhelm Furtwängler aus New York, herrschte ein halbes Jahrhundert zwischen Scala und Met, brillierte in Bayreuth und Salzburg, London und Wien, Buenos Aires und Paris. Und wo er nicht dirigieren mochte, dort wirkte er noch durch seinen Boykott.
Die Amerikaner stilisierten den Autokraten zum Stabführer der Demokratie. Ihre Manie, selbst die Musikwelt manichäisch in gut und böse zu teilen, machte Toscanini zur Kultfigur: Der Italiener hatte Mussolinis Faschisten den Rücken zugekehrt und sich ab 1933 geweigert, in Hitlers Reich aufzutreten. Vom Geniekult des 19. Jahrhunderts haben im 20. auch andere Dirigenten profitiert; was Toscanini ihnen voraushatte, war die Selbstmythisierung zum »Sklaven der Partitur«.
Die Heldenverehrung musste manches Detail ignorieren. Der Dirigent war zuerst Anhänger des Duce gewesen und hatte sich von den frühen »fascisti« als Senatskandidat aufstellen lassen. Erst 1931, im neunten Jahr der Faschisten-Ära, brach der Pult-Tyrann mit Italiens anderem Diktator. Dessen Schwarzhemden hatten Toscanini zwingen wollen, in Bologna ihren Parteimarsch »Giovinezza« zu dirigieren.
Ada Mainardi, die vergötterte Geliebte, bekommt die politischen Reaktionen ihres »Artù« mit aller Wucht zu spüren. »Wir sind der Gnade eines Irren ausgeliefert, eines paranoiden und syphilitischen Delinquenten«, schreibt Toscanini 1935. Für ihn verbreiten Mussolini und die Schwarzhemden »malocchio« - den bösen Blick. Der weltläufige Musiker ist abergläubisch genug, dagegen mit einem bewährten italienischen Hausmittel vorzugehen: »Ich greife an die spezifisch männlichen Merkmale meiner Anatomie.«
Ada sei Dank. An sie ist die süffigste Portion der Eruptionen Toscaninis gerichtet. »Du bist der Lenz!«, schreibt er ihr ganz am Anfang, im Nachtexpress nach Rom, mit Notenbeispiel aus der »Walküre«. Er glaubt zu wissen, dass Ada am Radio sitzt, wenn er in Salzburg »Fidelio« gibt: »Hast Du das Feuer gespürt, das durch mein Blut floss? Dich wollte ich beglücken.« Während der Dialoge in Beethovens Oper, wenn es nichts zu dirigieren gibt, küsst der Maestro heimlich ein Foto seiner Ada, des »einzigartigen Geschöpfs«.
Mit Ada Colleoni Mainardi, geboren 1897, hat Toscanini sieben Jahre lang sehr intensiv korrespondiert. Viel seltener als die Briefe sind notgedrungen jene »sublimen Stunden«, in denen der ständig beanspruchte Künstler und Familienpatriarch sich den Wunsch zu erfüllen sucht, »Dich in jeder Manier zu besitzen, bis ich den letzten Atemzug ausstoße«.
Nach einer Darbietung von Beethovens Neunter in Manhattans Carnegie Hall, die zu einem »tief bewegenden« Ereignis wird, stammelt Toscanini telegrafisch über den Ozean an Ada: »Liebe Dich, anbete Dich, gib mir, gib mir, mehr und mehr.« Das oft benutzte Codewort »dammi« (gib mir) war offenkundig der von Ada in Augenblicken höchster Erregung gebrauchte Liebeslaut.
Die Gattin des Cello-Virtuosen Enrico Mainardi war gelernte Pianistin. Sie begleitete ihren Mann auch im Konzert, doch Adas Klavierspiel verblasste gegenüber ihrer Schönheit, ihrem Charme und ihrem Liebeshunger. Dem Maestro war sie 1917 als »attraktivste Erscheinung ihrer Generation« (Sachs) aufgefallen. Näher kamen sie sich viel später: Der alte Toscanini hatte unzählige Affären hinter sich, als die Freundin seiner Tochter Wanda ihm 1933 ein schwärmerisches Telegramm schickte. Er kabelte gleich zurück: »Ihre Worte haben meiner Seele gut getan. Wie wenn man Benzin in ein Feuer schüttet.«
Fortan brannte es bei beiden lichterloh. »Ich will Dich küssen von Kopf bis Fuß, in jeder Nische, jedem noch so verborgenen Winkel Deines vergötterten Leibes saugen«, schreibt Toscanini. »Ich liebe Deinen Mund und Deine Küsse - jene überirdischen, die mein Leben austrinken. Wenn ich tief in Dir drin bin und in Deine prachtvollen Augen blicke, um die sich langsam kleine schwarze Ringe bilden, als ob sie besiegt und erschöpft wären von der Sinnlichkeit, die Du genossen hast - ach, Du ahnst nicht, wie übermenschlich das wirkt auf Deinen Artù ...«
Doch die Flammen loderten auch bei dem Übermenschen vorwiegend auf dem Papier. Die epistolarische Erotik floss so üppig, weil die beiden sich höchst selten begegneten. Selbst Briefeschreiben war ein Problem: Artù musste im Hotelzimmer bis drei Uhr morgens auf den »tiefen Schlaf« seiner korpulenten Ehefrau Carla warten, um die »transzendentale Wollust« seiner Gefühle für Ada formulieren zu können.
Die hastig hingefetzten Briefe an Ada sind auch von anderen obstinaten Leitmotiven geprägt: von Toscaninis Künstler-Fanatismus, seinem Hass auf Rivalen und Stümper, dem Leiden am eigenen Ungenügen - sowie den Reaktionen des Maestro auf Politik und Musikleben in Zeiten des Faschismus und Nazismus.
Bayreuth ist womöglich Toscaninis größte Obsession. Gegenüber der verehrten »Mausi« - der emigrierten Wagner-Enkelin Friedelind - nennt er sein Verhältnis zum Grünen Hügel den »tiefsten Kummer meines Lebens«. Toscanini hatte schon 1895, mit 28, die Verwegenheit, den Turinern die italienische Uraufführung der »Götterdämmerung« zuzumuten. Vier Jahre später pilgerte er nach Bayreuth und war enttäuscht: »Die Sänger, unter uns gesagt, sind Hunde. Für Leute, die Vollkommenheit erwarten, stellen die Bayreuther Aufführungen einen schlechten Scherz dar.«
1930 darf er selbst im Festspielhaus den Taktstock schwingen - und bringt mit einem seiner legendären Wutanfälle das Orchester zur Verzweiflung. Noch Siegfried Wagner, des Komponisten Sohn, hatte Toscanini in den »mystischen Abgrund« des Bayreuther Orchestergrabens geladen, als ersten Dirigenten jenseits der deutschen Kapellmeistertradition, gegen den Widerstand reaktionärer Kreise. Denen war Siegfried schon mit dem Spruch unangenehm aufgefallen: »Es ist für uns vollkommen gleichgültig, ob jemand Chinese, Neger, Amerikaner, Indianer oder Jude ist.«
Dennoch bedurfte es weltanschaulicher Verrenkungen, »Tannhäuser« und »Tristan« einem Italiener anzuvertrauen. Siegfrieds Schwager Houston Stewart Chamberlain, »Rassentheoretiker«, hatte vorsichtshalber schon Dante und Kolumbus als »nordischen Blutes« eingestuft. Erst unter Siegfrieds Witwe Winifred wurde das Verhältnis zu Bayreuth problematisch:
Hitlers Busenfreundin machte sich lustig über Toscaninis motorische Gestik, die
sie an einen »Scheibenwischer« erinnerte.
Doch Winifred und der Führer und Reichskanzler legten wegen des Prestiges hohen Wert darauf, dass der Italiener Bayreuth treu bleibe. Hitler sandte ihm Komplimente, doch Toscanini schrieb aus New York nur zurück, welch »bittere Enttäuschung« es für ihn wäre, sollten »die Umstände« ihn zum Fernbleiben zwingen. Mit den Umständen waren die Nazi-Maßnahmen gegen jüdische Musiker gemeint.
Der Antisemitismus hat Toscanini bald bewogen, Deutschland den Rücken zu kehren. Aber nach Bayreuth schrieb er weiterhin - »in unveränderter Freundschaft«. Cosima Wagners Töchter Daniela Thode und Eva Chamberlain bekamen von ihm 1934 ein Telegramm: »Ich bin Euch nahe in dem Leid, das Ihr durchmachen müsst. Würde nur Jesus Christus die Pharisäer aus dem Tempel werfen, zusammen mit dem Meineidigen Richard Strauss.«
Dahinter steckte »furbizia«, die Schlitzohrigkeit des Provinzlers. Toscanini tat so, als hielte er die Damen für Gegnerinnen Hitlers, die unter der Kollaboration schreckliche Qualen litten. Der »Tempel« war das Festspielhaus, »Pharisäer« die Nazi-Mitläufer, und Strauss der »Meineidige«, weil er mit bajuwarischer Nonchalance eingesprungen war, um die von Toscanini abgesagten »Parsifal«-Aufführungen zu übernehmen.
Das hat der Wüterich aus Parma dem Münchner nie verziehen. Im Oktober 1933 schrieb er aus Wien an seine Ada: »War in der Oper, um mir die ,Arabella'' von Strauss anzuhören. Welche Trostlosigkeit! Welch jämmerliches Zeug! Eine Schande, dass ein Künstler so tief sinken kann.« Darin hätte dem Maestro auch mancher Straussianer zugestimmt, der in dem seichten Spätwerk einen Sklerosenkavalier vermutete.
Heftiger als gegen Strauss polemisierte Toscanini gegen den Rivalen Wilhelm Furtwängler. Der kommt in Briefen an Ada verdächtig oft vor: »Männer wie Furtwängler sind mit zu viel Eitelkeit geschlagen; ich mit zu wenig.« Oder auch: »Dein Freund Furtwängler, dieser Hanswurst mit der mächtigen Eigenwerbung.« Der Italiener versuchte den 19 Jahre jüngeren Konkurrenten 1937 durch Boykottdrohung von den Salzburger Festspielen zu verbannen. Toscanini auf seinem Landsitz: »Wenn die Österreicher Furtwängler nicht streichen, bewege ich mich von hier nicht weg.«
Wie die Briefe an Ada bezeugen, sah Toscanini den Berliner nicht nur als künstlerischen Rivalen an - er witterte in dem scheuen Charmeur einen Nebenbuhler. Aus Salzburg, wo er die »Meistersinger« dirigiert, schreibt er an Ada: »Du hast mir Schmerzliches angetan. Warum bist Du nach Bayreuth gefahren? Dazu warst Du nicht verpflichtet. Wer hat Dich eingeladen? Etwa Furtwängler? Du und Dein Mann, Ihr habt wirklich eiserne Magen!«
Bayreuth und Furtwängler - zwei Traumata. An Weihnachten 1937 stellt Toscanini abermals Ada zur Rede: »Sag mir die Wahrheit. Hast Du in München Station gemacht, um in ein Furtwängler-Konzert zu gehen? Sag mir die ganze Wahrheit! Ich weiß, dass dieses Individuum jede Gelegenheit wahrnimmt, Dich zu besuchen, und ich weiß von Mausi (Friedelind Wagner -Red.), dass er keine Frau auslässt, sei sie jung oder alt, hübsch oder hässlich. Du musst mir alles gestehen, als wäre ich Dein Beichtvater.«
Seine rasende Eifersucht überträgt sich auf das Gastland der Mainardis: »Ihr seid vergiftet von diesen großen, groben, massigen Deutschen. Ich hasse sie. Ich hasste sie schon immer, lange vor Hitler. Es macht mich krank, dass diese verdammten Deutschen Dich in ihrer Mitte haben. Kann Enrico denn nicht anderswo Arbeit finden?«
Da seine Ada »die Juden nicht liebt«, stichelt Artù mit seinem Philosemitismus. Im King David Hotel in Jerusalem schreibt er ihr: »Von dem Moment an, da ich meinen Fuß auf Palästina setzte, lebe ich in ständiger seelischer Exaltiertheit. Ich habe wunderbare Menschen gefunden unter den aus Deutschland verjagten Juden.«
Ada aber zog es zu den Germanen. »Der Gedanke, dass abermals Berlin Dich ganz und gar absorbiert, macht mich wahnsinnig!«, schreibt er ihr Ende 1937. »Ich habe diese Stadt immer gehasst, aber jetzt ist mein Hass weiß glühend und giftig wie Blausäure. Wehe dem Deutschen, wehe dem Preußen, dem ich ins Gesicht spucke! Er würde auf der Stelle tot umfallen!«
Auch nach Kriegsausbruch und der Dauer-Übersiedlung nach Amerika schreibt Toscanini an Ada, mehr politisch-polemisch als erotisch, bis ihm 1941 die Geduld ausgeht: »Hier sind die letzten drei Deiner Lügen. Die schlimmsten, denn sie entspringen dem Zynismus. Schande! Wenn meine letzten Briefe nicht zu Deinem Herzen sprachen, bedeutet dies, dass Gott, der Deinen Körper unfruchtbar machte, sich auch Deine Seele steril wünschte. Ich bin sicher, dass wir uns nicht wieder sehen werden in den wenigen Jahren, die mir bleiben. Sollte es anders kommen, werde nicht ich es sein, der erröten muss!«
Dennoch schrieb Arturo Toscanini einmal noch an Signora Mainardi, 1946, aus New York: Der 79-Jährige beklagte sich, dass Ada nicht zu seinem ersten Nachkriegskonzert in der Mailänder Scala gekommen war. Wahrscheinlich erhielt er keine Antwort. Er selbst hat die Briefe aller seiner Liebschaften zerstört.
Ada Mainardi starb 1979, Jahrzehnte nach dem Maestro. Ihre Briefe sind nicht mehr greifbar. Auch die Ziertüchlein mit den Blutflecken, die Toscanini so entzückten, sind nicht wieder aufgetaucht. CARLOS WIDMANN
* Harvey Sachs (Hg.): »The Letters of Arturo Toscanini«. AlfredA. Knopf, New York; 472 Seiten; 35 Dollar.* Mit Hermann Göring, Adolf Hitler und Joseph Goebbels 1936 inBerlin.