RAUSCHGIFT / APOTHEKENEINBRÜCHE Gift gehortet
Am frühen Morgen des 28. November stiegen Unbekannte in die Apotheke Im Heidelberger Stadtteil Wieblingen ein. Sie nahmen weder Geld noch kostspielige Heilmittel -- sie plünderten den Giftschrank.
Der Einbruch brachte die Apothekerin Veronika Busch zum zweitenmal in sechs Monaten um ihren Vorrat an Rausch- und Betäubungsmitteln. Diesmal waren es 250 Gramm Opiumtinktur, 183 Einzelampullen Morphium, 90 Spritzen des morphinhaltigen Schmerzmittels Dilaudid-Atropin, 18 Ampullen des opiumhaltigen Präparats Pantopon, 62 Ampullen des Morphin-Ersatzes Eukodal und 25 Ampullen des Betäubungsmittels Dolantin.
Als »Einbruchsepidemie« kennzeichnet der Wiesbadener Kriminalrat Heinz-Günter Zimmermann die Häufung von Rauschmittel-Diebstählen aus Apotheken im Bundesgebiet und In West-Berlin.
In den ersten zehn Monaten dieses Jahres wurden 365 derartige Einbrüche und Überfälle registriert -- in Provinz-Apotheken an dunklen Marktplätzen ebenso wie in City-Apotheken an neonbeleuchteten Einkaufsstraßen. Allein in Hamburg, dem Dorado der meist suchtkranken Eindringlinge, verzeichnete die Kripo bis 1. Dezember dieses Jahres 128 Einbrüche.
Täter sind fast durchweg Suchtkranke, die sich das Rauschgift anders nicht zu verschaffen wissen; und häufig sind es Jugendliche.
Zwei Liter Opiumtinktur, genug für zirka zweitausend Spritzen, fand die West-Berliner Kripo in der Wohnung eines 21jährigen, der wegen »akuten Suchtzustandes« in die Klinik eingeliefert worden war.
Betäubungsmittel zum Apothekeneinkaufspreis von 2000 Mark fanden sich kürzlich im Entlüftungsschacht der Toilette bei einem Süchtigen in Darmstadt. 20 Ampullen und zehn Fläschchen verschiedener Rauschmittel hatte ein 20jähriger in Berlin-Moabit in seiner Wohnung gehortet -- alle zwei Stunden verabreichte sich der junge Mann eine Injektion.
Alarmiert durch solche Nachrichten, erließ Bundesgesundheitsminister Käte Strobel eine »Verordnung zur Änderung der Verordnung über den Betrieb von Apotheken«. Danach können die Gesundheitsämter seit dem 12. November, »beraten durch die Kriminalpolizei«, die Installation etwa von Warn- und Notrufanlagen in Apotheken vorschreiben. »Für Apotheken«, so kommentierte Dr. Christian Wehle von der Frankfurter Bundesapothekerkammer den ministerlichen Schutz-Erlaß, »werden Sicherungen wie für Juwelierläden angeschafft werden müssen.«
Zusätzlichen Nutzen erhofft sich die Ministerin außerdem von einer Neufassung der sogenannten Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung im nächsten Jahr: Ärzte dürfen danach Rauschmittel nur noch auf Sonderrezeptformularen verordnen. »Die Offenlegung«, so heißt es im Strobel-Ministerium, »veranlaßt offenbar viele Ärzte, die Verschreibung von Betäubungsmitteln strenger zu beurteilen.«
Tatsächlich Ist etwa im Saarland, wo die Sonderrezept-Regelung bereits Anfang der fünfziger Jahre eingeführt worden ist, die Zahl der Betäubungsmittelrezepte rapid zurückgegangen: Von 40 233 Rezepten 1954 auf nur mehr 22 593 im »Jahr 1964.
Freilich, ob dem Übel allein mit Opium-Tresor und neuer Verschreibungsordnung beizukommen Ist, erscheint den meisten Apothekern zweifelhaft. Ihr Groll gilt einem Gesetz, das -- so die Meinung von Apotheker Otto Sievers aus Bad Salzgitter -- »eine unverantwortliche Verleitung zum Diebstahl darstellt": dem Opiumgesetz aus dem Jahr 1929.
Dieses Gesetz nämlich zwingt die Apotheker, so ein Vertreter der Zunft aus Sottrum bei Bremen, zu einer »schwarzmarktähnlichen Hortung von Betäubungsmitteln«.
Nach Paragraph vier des Opiumgesetzes ist das Ordern von Rausch- und Betäubungsmitteln nur durch ein kompliziertes Bezugsehein-Verfahren möglich: Die Apotheker müssen ihren Bedarf bei einer Filiale des Bundesgesundheitsamtes, der Bundesopiumstelle, beantragen. Erst nach behördlicher Genehmigung dürfen sie dann die Ware über die pharmazeutischen Großhandlungen beziehen.
Doch was ursprünglich zur Kontrolle der auf dem Markt befindlichen Giftstoffe gedacht war, hat sich nun eher Ins Gegenteil verkehrt: Der bürokratische Ballast hat zur Folge, daß zahlreiche Apotheken In ihren Giftschränken Bestände bergen, die über den Durchschnittsbedarf einer Woche (wie gesetzlich vorgeschrieben) weit hinausgehen.
Vier Krebs-Patienten beispielsweise hatte die Landapotheke von Apotheker Ratz in Sottrum mit schmerzstillenden Betäubungsmitteln zu versorgen. Nachdem drei der Kranken innerhalb weniger Tage gestorben sind, lagern in der »Apotheke bei der Kirche« gegenwärtig unbenutzt 170 Morphin-Ampullen, 86 Ampullen des Beruhigungsmittels Scophedal, 30 Ampullen Dolantin und 40 Ampullen Dilaudid.
Die Forderung nach einer Vereinfachung des Bezugschein-Systems und des damit einhergehenden Abbaus »vorsorglichen Riesenbedarfs« stellte erstmals der Krefelder Apotheker Schmidt-Wetter auf dem Deutschen Apothekertag in Stuttgart Anfang Oktober. »Mit geringstem finanziellen Aufwand, aber einfachen Mitteln«, so prophezeite Schmidt-Wetter, lasse sich das Problem unbürokratisch und unter Wahrung der Kontrolle des Rauschmittelverbrauchs regeln.
Bezugscheinpflichtige Betäubungsmittel, so das Begehren des Apothekers, sollten künftig wie alle anderen Medikamente direkt beim pharmazeutischen Großhandel bestellt werden können; Kopien der Bestell-Anträge würden der Bundesopiumstelle nach wie vor über den Rauschmittelbedarf der Apotheken in der Bundesrepublik Aufschluß geben.
Ob dieser Vorschlag bei der Berliner Bundesopiumstelle schon gedanklich »verarbeitet worden Ist«, bezweifelt Schmidt-Wetters Bremer Kollege Carl Heidt mit einem Vergleich aus dem Tierreich: »Diese Verarbeitung erinnert an die vielgestaltige Tätigkeit eines Kuhmagens"«
Dr. Wilfried Junge, Leiter der Berliner Behörde, schweigt einstweilen zu den Vorschlägen der Apotheker. Denn »als Beamter«, so belehrt seine Sekretärin Anrufer, »darf er keine Auskunft geben«. Und derzeit sieht es so aus, als würde die Genehmigungsprozedur für Betäubungsmittel eher noch langwieriger und mithin der Bestand an Rauschgiften In den Apotheken noch größer.
Als »wichtige Mitteilung« ließ die Bundesopiumstelle Ende vorletzter Woche in der »Deutschen Apotheker-Zeitung« verkünden: »Durch die Einführung der 42-Stunden-Woche« könnten künftig die »freitags mit der zweiten Post eingehenden Bezugscheinanträge erst am darauffolgenden Wochenbeginn bearbeitet werden.«