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UMWELT / QUECKSILBER Gift im Haar

aus DER SPIEGEL 47/1970

Im Fettgewebe von Pinguinen entdeckten amerikanische Forscher Anfang der sechziger Jahre die ersten Anzeichen einer weltweiten Verschmutzung mit einem Chemieprodukt: Rückstände des Insektenvertilgungsmittels DDT. Fortan wurde DDT fast zum Schlüsselbegriff für die Bedrohung des Menschen durch Gifte in seiner Umwelt. In den meisten Ländern ist das Insektenmittel inzwischen verboten.

Ende letzten Monats registrierten US-Forscher den Beginn einer neuerlichen, wahrscheinlich noch weit bedrohlicheren Giftwelle: Im nördlichen Pazifik, Tausende von Kilometern von den Zentren der Zivilisation entfernt, fanden sie im Gewebe von Menschen und Tieren Rückstände des gefährlichen Nervengiftes Quecksilber.

Im Organismus von Seehunden, aber auch von Bewohnern der Pribilof-Inseln im Bering-Meer westlich von Alaska, entdeckten Experten des amerikanischen Gesundheitsdienstes Spuren des farblosen Giftes, das tödliche Lähmungen verursachen kann. Die Giftstoff-Funde nahe dem Polarkreis kennzeichnen den vorläufigen Höhepunkt der »Quecksilber-Krise« ("Newsweek") in den USA: Rückstände der gefährlichen Substanz waren schon zu Beginn dieses Jahres im Gebiet der Großen Seen und in mittlerweile 33 amerikanischen Bundesstaaten festgestellt worden. In den letzten drei Wochen aber mehrten sich die Anzeichen, daß die Quecksilber-Verschmutzung offenbar schon globales Ausmaß angenommen hat.

* Als Mediziner des US-Gesundheitsdienstes in Atlanta (US-Staat Georgia) Haarproben von Pribilof-Insulanern untersuchten, stellte sich heraus, daß in 13 Fällen die für Menschen verträgliche Toleranzgrenze -- eine halbe Gewichtseinheit Quecksilber in einer Million Gewichtseinheiten Körpergewebe -- schon um das Zehn- bis Zwölffache überschritten war.

* In der Leber von Seehunden aus dem Bering-Meer fand der Veterinär Dr. Mark Keyes das 116fache jenes Quecksilberanteils, mit dem der Verzehr von Tierfleisch noch als unbedenklich gilt.

* Eine 60fach höhere Konzentration von Quecksilber als zulässig fand die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA in einem seit 1964 im Handel befindlichen Eisenpräparat, das als Stärkungsmittel vor allem in Reformhäusern feilgeboten wurde. Es war (weil den Herstellern daran gelegen war, möglichst keine Rohstoffe zu verwenden, die möglicherweise verseucht waren) aus der Leber von zivilisationsfernen, auf den Pribilof-Inseln geschossenen Seehunden gewonnen worden. 1 200 000 der »Seehund-Leber«-Tabletten waren in den letzten Jahren verkauft worden, die restlichen 10 000 Pillen des Präparats wurden jetzt zurückgezogen. Den ersten Hinweis auf eine Quecksilberverseuchung in den Meeressäugetieren am Polarkreis hatte der Biologe Dr. George Y. Harry Ende Oktober gefunden -- als er das Gewebe von Seehunden auf DDT-Rückstände untersuchte. Als Harry die alarmierenden Quecksilberfunde bekanntgab, reagierte die US-Gesundheitsbehörde sofort. Ein Ärzteteam unter der Leitung des Neurologen Dr. Fred ii. Hochberg wurde nach Norden geflogen und untersuchte einen Teil der 550 Einwohner von den Pribilof-Inseln.

Mit 42 Haarproben kehrte das Hochberg-Team nach Atlanta zurück. Schon die ersten Untersuchungen im Georgia Institute of Technology bestätigten den Verdacht der Forscher: Die Inselbewohner, deren Hautptnahrungsmittel seit Generationen Seehundfleisch ist, haben mit ihrer Meereskost Quecksilber aufgenommen und im Organismus gespeichert.

Ob die Insulaner bereits an chronischer Quecksilber-Vergiftung (Merkurialismus) leiden, konnten die Mediziner bislang nicht klären. Zwar beobachteten die Ärzte unter den Pribilof-Eingeborenen besonders häufig Anreichen von Schwachsinn, der nicht selten im Gefolge einer schweren Quecksilbervergiftung auftritt. Gleichwohl aber hält es Hochberg zum gegenwärtigen Zeitpunkt »für unmöglich«, dieses Symptom »mit dem Quecksilber in Zusammenhang« zu bringen. Denn die Inselbevölkerung befindet sich -- so Hochberg -- generell in einem »nicht besonders guten« Gesundheitszustand: Die meisten Insulaner leiden an Diabetes oder zu hohem Blutdruck.

Auch über die Quellen der Quecksilberverschmutzung im Pazifik können die Forscher bislang nur spekulieren. Zu einem Teil stammt es offenbar von Papierfabriken und -mühlen, die entlang der Küsten der US-Staaten Oregon und Washington ihre Abwässer in den Pazifik leiten. Zusätzlich werden diese Flüsse, so mutmaßt der kalifornische Umweltforscher Dr. Ephraim Kahn, mit Rückständen der kalifornischen Quecksilberminen belastet, in denen 90 Prozent der amerikanischen Quecksilbervorkommen gefördert werden.

Das hochgradig giftige Quecksilber. so vermutet Kahn, wird zunächst vom Plankton, dann -- im weiteren Verlauf der Nahrungskette -- von kleineren und größeren Fischen aufgenommen. Von den quecksilberverseuchten Lachsen und Schellfischen aber ernähren sich wiederum die Seehunde, die auf ihren Wanderschaften an der amerikanischen Westküste vorbeiziehen und sich alljährlich zur Paarung auf den Pribilof-Inseln versammeln. Vor allem in der Leber der Seehunde -- von den Inselbewohnern als Delikatesse geschätzt -- wird das mit der Nahrung aufgenommene Quecksilber gespeichert.

Daß Quecksilber auf den einsamen und entlegenen Pribilof-Inseln nachgewiesen wurde, bezeichnete die »New York Times« als ein neues Glied in der »schier endlos scheinenden Kette von Beleidigungen der Umwelt durch den Menschen«. Das ganze Ausmaß der Quecksilber-Verseuchung freilich können die Experten bislang nicht einmal abschätzen. Denn niemand weiß, welcher Anteil der fünf Millionen Pfund Quecksilber, die jährlich in den USA verarbeitet werden, in die Gewässer des Landes und von dort in die Ozeane abfließt.

Auch unmittelbar vor den Toren der Millionen-Metropolen ist das neue Gift schon aufgespürt worden. Die Leber von Seelöwen auf den Farallon-Inseln, nur 23 Seemeilen westlich von San Francisco, enthält, wie vorletzte Woche bekannt wurde, 25 tausendstel Promille Quecksilber -- etwa ein Fünftel jener Menge, die bei den Seehunden auf den Pribilof-Inseln entdeckt wurde.

Da vergleichbare Quecksilber-Rückstände auch in anderen Gliedern der maritimen Nahrungskette, etwa bei einer Barschart, entdeckt wurden, sahen sich die Gesundheitsbehörden in den kalifornischen Küstenstädten zu einem Appell vor allem an die Adresse der Sportangler veranlaßt: Angelfische, vor allem Barsche, sollten sie »höchstens noch einmal in der Woche essen«.

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