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ARZNEIMITTEL / REZEPTPFLICHT Giftiger Schlummer

aus DER SPIEGEL 12/1971

Ein schwellendes Kopfkissen, himmelblau bezogen, lädt »Erwachsene und Kinder« zum Schlummer -- auf einer Anzeige der Pharmafirma Rentschler in Laupheim, die für ihr Schlafmittel »Lagunal« wirbt.

Ein putziges Sandmännchen mit Vollbart und Zipfelmütze verheißt »ruhigen Schlaf« für »jedes Lebensalter« -- der Wichtelmann wirbt für »Sekundal«, ein Schlummer-Präparat der Firma Woelm in Eschwege.

Als »unschädlich« oder »gut verträglich« preisen die Arzneimittel-Werber Schlaf- und Beruhigungspräparate wie Lagunal, Sekundal oder Dolestan, die der Rezeptpflicht nicht unterliegen, weil sie die klassische Betäubungssubstanz, Barbitursäure, nicht enthalten.

Doch die »barbitursäurefreien Präparate«, so enthüllte jüngst die Berliner Ärztin und Privatdozentin Dr. Karla Ibe, »sind nicht harmlos«. Die Medizinerin, die das Reanimationszentrum an der Freien Universität Berlin leitet, verzeichnet in Ihrer Klinik »viele und schwere Vergiftungen mit den freiverkäuflichen Substanzen«.

Rund 700 Vergiftete, überwiegend Lebensmüde, werden jährlich in Dr. Karla Ibes Wiederbelebungszentrum eingeliefert. Mehr als 50 Prozent der Vergifteten, so berichtete die Ärztin in einem Vortrag vor West-Berliner Apothekern, hatten eine Überdosis der angeblich harmlosen Schlummerdrogen eingenommen -- die Schlafmittel, sogenannte Carbamide oder bromierte Harnstoffderivate, lösten bei den Patienten schwere Vergiftungserscheinungen aus.

Lebensmüde, die etwa 40 Lagunal- oder Dolestan-Tabletten geschluckt hatten, blieben trotz ärztlicher Behandlung oftmals tagelang bewußtlos. Das doppelte Quantum, rund 80 Tabletten, führte in vielen Fällen zum Tod. Komplikationen -- Lungenentzündung oder Infektion der Harnwege -- verzögerten zudem bei vielen Vergifteten die Genesung.

Die freiverkäuflichen Carbamid-Präparate, so kommentierte die West-Berliner Ärztin ihre Erfahrungen, seien kaum weniger gefährlich als die verschreibungspflichtigen Barbitursäure-Drogen. In Zukunft, fordert deshalb Dr. Karla Ibe, sollten nicht nur Barbiturate, sondern grundsätzlich alle Schlafmittel nur auf Rezept verkauft werden dürfen; überdies forderte die Ärztin die Pharmazie-Firmen auf, die Schlafmittel zum Schutz gegen kindliche Neugier in unauffälligen Behältern und in möglichst kleinen Portionen (Zehnerpackungen) zu liefern.

Gegenwärtig werden Carbamid-Präparate auch in Zwanzigerpackungen an Patienten abgegeben, zum Preis von jeweils drei oder vier Mark. Für den rezeptfreien Tod zahlen Lebensmüde demnach kaum mehr als 15 Mark.

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